Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341
Dr. Jutta Bickmann, Ochtrup
Druckversion (PDF) | Informationen zur Autorin | Ausgabe 1/2000 |
Inhalt:
Der folgende Text entstand als einleitender Vortrag für eine Bibelwoche, die im September 1999 anlässlich des Pfarrjubiläums der Herz-Jesu-Gemeinde im münsterländischen Emsdetten stattfand. Für die Veröffentlichung wurde der Text leicht überarbeitet, die Vortragsform jedoch beibehalten und auf das Einarbeiten von Literatur verzichtet. Für Beschreibung und Auslegung der biblischen Schöpfungsberichte im zweiten Teil sei exemplarisch verwiesen auf Karl Löning / Erich Zenger, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, sowie auf die Ausgabe der Schlangenbrut Nr. 40 (1993) zum Thema "im Anfang war … feministische Bibelauslegung".
Die Tatsache, dass ich eine Zeitlang als Bibelwissenschaftlerin an der Universität gearbeitet habe, hat mir mit den Mitgliedern unserer Pfarrei manches interessante Gespräch eingebracht. "Weißt Du eigentlich, dass wir bis in die 60er Jahre hinein die Bibel nicht vollständig lesen durften?", fragte mich vor einiger Zeit meine Nachbarin im Kirchenchor. Nein, ich wusste nicht, denn ich bin zu dieser Zeit erst geboren worden. Eine Zeit oder Situation, in der ich keinen Zugang zu gleich welchen Büchern gehabt hätte, ist für mich unvorstellbar. "Als Katholiken bekamen wir normale Gläubige nur eine Auswahlbibel in die Hand. Darin fehlten zum Beispiel so wunderbare Texte wie das ‚Hohelied der Liebe‘. Das wurde für moralisch nicht förderlich gehalten. Das wurde uns einfach vorenthalten. Aber", und bei dem nachfolgenden pfiffigen Grinsen wusste ich wieder, warum ich diese Frau mag, "aber wir hatten ja evangelische Freunde." Die sorgten für das Fehlende.
Bis in eben diese 60er Jahre hinein ging es einem ‚normalen‘ Theologiestudenten für das Priesteramt in der Regel nicht besser. Um exegetische Fachbücher lesen zu dürfen, die nicht die Druckerlaubnis der katholischen Kirche besaßen, brauchte er eine Erlaubnis seiner Ausbilder bzw. geistlichen Begleiter. Zwar hatte die katholische Kirche sich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts vorsichtig der wissenschaftlichen Bibelauslegung geöffnet, aber dennoch wurden die Grenzen dessen, was als erlaubt galt, recht eng gehalten. Für einen jungen Priesteramtskandidaten galt es sicherzustellen, dass er seinen geplanten Studien moralisch gewachsen sein würde. Kritisch gewendet hieß das aber, dass sein Bibelstudium einer strengen Kontrolle unterlag.
Wenn Sie selber zurückdenken, wo Ihnen in dieser Zeit die Bibel vor allem begegnet ist, dann zeigen sich vielleicht zwei Schwerpunkte: Zum einen kam man als ‚normaler‘ Christ und ‚normale‘ Christin mit der Bibel im Gottesdienst in Kontakt. Im Gottesdienst wurden (und werden) Einzelstücke aus den biblischen Büchern vorgelesen und in der Predigt ausgelegt. Meine Erfahrung ist dabei allerdings bis heute, dass oft gerade die spannenden Textstücke, die ich nicht auf Anhieb verstehen kann, eben nicht zum Thema der Predigt werden.
Zum anderen begegneten vor allem den Kindern biblische Versatzstücke im Religions- bzw. Katechismusunterricht, dessen Grundlage in den 50er bis 70er Jahren der "Katholische[r] Katechismus der Bistümer Deutschlands" bildete. In fast jedem Kapitel dieses so genannten ‚Grünen Katechismus‘ finden sich nach dem Lehrstück und den Katechismusfragen ein persönlich formulierter Vorsatz "Für mein Leben" und, um diesen abzusichern, ein passendes "Wort Gottes": einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene, Bibelzitate.
"1. Wozu sind wir auf Erden? Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig bei ihm zu leben. Für mein Leben: Ich will Gott stets dafür dankbar sein, dass ich ein Christ bin. – Ich will mich oft fragen: Was will Gott von mir? Wort Gottes: Ihr seid hinzugetreten zur Stadt des lebendigen Gottes, zum himmlischen Jerusalem; zu den zahllosen Engelscharen; zur festlichen Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind; zu Gott, dem Richter aller; zu den Seelen der vollendeten Gerechten und zu Jesus, dem Mittler des Neuen Bundes (Hebr. 12,22–24). – Kämpfe den guten Kampf des Glaubens und ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen bist (1 Tim 6,12). – Es steht geschrieben: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten, und ihm allein dienen (Matth. 4,10)." (ebd., S. 6)
Eine Fähigkeit, die Bibel mit eigenen Augen zu lesen, wurde auf diese Weise nicht nur nicht gefördert, sondern sogar verhindert. Die Heilige Schrift war eine Art Steinbruch, aus dem die Sätze und Inhalte, die man zu glauben hatte, herausgemeißelt wurden. In besonderem Maß standen dabei die moralischen Verpflichtungen der ChristInnen im Vordergrund. Die Bibel war also vor allem ein moralisches Buch – das Wort Gottes, aus dem ich als ChristIn erfahren konnte, wie ich mein Leben gestalten musste, wie ich mich den Mitmenschen und vor allem Gott gegenüber verhalten sollte.
In dieser Zeit war der Katechismus das eigentlich maßgebliche Buch, und damit bildete die moralisierende Perspektive des Katechismus die Brille, mit der die Bibel gelesen und verstanden wurde. Wie sehr, das zeigt eine Illustration aus dem 2. Kapitel des ‚Grünen Katechismus‘ (ebd., S. 7): Den willig und flehend nach oben ausgestreckten Händen der Gläubigen, also der Schäfchen, die einen Hirten brauchen, reichen zwei sehr viel größere Hände von oben herab ein Buch. Aber es ist nicht Gott, der hier seinem Volk sein Wort, also die Bibel, schenkt, sondern es ist die Kirche, die der Herde den Katechismus schenkt, wie der deutlich lesbare Buchtitel zeigt. Dazu passt die Belehrung:
"Gott will, dass wir auf die Kirche hören. Wir müssen glauben, was sie glaubt und zu glauben lehrt. Dann gehen wir den Weg der Wahrheit und gelangen einst ins ewige Leben." (ebd.)
Abgesichert wird diese Hervorhebung des Katechismus und Herabminderung der Bibel erneut durch ein Wort Gottes, also die Bibel selbst:
"Wenn jemand euch ein anderes Evangelium verkündet, als ihr empfangen habt, so sei er verflucht (Gal. 1,9)." (ebd., S. 8)
Die genannten Beschränkungen bei der Bibellektüre änderten sich im weiteren Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in und seit den 60er Jahren: Heute kann und darf jedermann und jedefrau die gesamte Bibel und alle verfügbare wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Literatur zur Bibel lesen. Die Konzilsväter haben betont, dass "das Studium des heiligen Buches gleichsam die Seele der heiligen Theologie" sei (Dei Verbum 24). Sie haben alle Priester aufgefordert, sich "in beständiger heiliger Lesung und gründlichem Studium" mit der Bibel zu befassen, um gute Lehrer des Wortes Gottes zu sein. Und sie haben alle, die an Jesus Christus glauben, ebenfalls ermahnt, die Bibel zu lesen, um so immer tiefer in den Glauben einzudringen. (Dei Verbum 25) Diese Linie wird konsequent fortgeführt in dem Dokument der päpstlichen Bibelkommission "Die Interpretation der Bibel in der Kirche" aus dem Jahr 1994.
Aber sind damit unsere Probleme als katholische BibelleserInnen gelöst? Dass das wohl eher nicht so ist, zeigen die folgenden Erfahrungen und Begegnungen – die Sie wahrscheinlich bestätigen und bestimmt noch erweitern und ergänzen können:
Bei der Lektorenschulung einer Münsteraner Innenstadtgemeinde vor ungefähr 10 Jahren beschäftigten wir uns auch mit einer Lesung der Osternacht: dem Durchzug der IsraelitInnen durch das Meer. Wir wurden aufgefordert, unsere Phantasiebilder und Assoziationen zu dieser mythischen Erzählung in Worte zu fassen und dem nachzuspüren, was diese Geschichte für unseren Glauben bisher schon bedeutet hat.
Einer der teilnehmenden Männer jedoch kam überhaupt nicht von der Frage los, ob und inwiefern das Erzählte denn historisch glaubhaft und wahrscheinlich sei. Ob jemals und wann denn die Israeliten durch ein Meer gezogen sind – und durch welches. Wie das mit dem Wind und den Wellen funktioniert haben könnte. Er versuchte, für sich einen Kern dieses ‚Märchens‘ zu retten, indem er es vernünftig, d.h. nach den Maßstäben unseres modernen, rationalen Denkens erklärte – und er merkte gar nicht, dass er auf diese Weise gerade nicht an den Kern der Geschichte kam, dass seine Zugangsweise ihn von der Wahrheit dieses Mythos fern hielt.
Ähnliche Gespräche führe ich immer mal wieder mit verschiedenen Menschen. "Wie ist das denn", werde ich gefragt, "gehörst du auch zu diesen neumodischen Leuten, die sagen, dass die Weihnachtsgeschichte nicht wahr ist?" Und die Leute meinen mit dem Wörtchen ‚wahr‘: "Wenn du das, was da berichtet wird, nicht für eine historische Tatsache hältst, dann ist doch diese Geschichte für dich bedeutungslos. Dann kannst du doch ab einem bestimmten Punkt nicht mehr behaupten, dass du eine gläubige Christin bist."
Eine junge Studentin brachte das Problem für sich einmal so auf den Punkt: "Wenn Jesus nicht wusste, dass er der Sohn Gottes war, wie kann ich denn dann jetzt noch zu ihm beten?"
Daneben gibt es noch eine weitere Problematik: Eine mir befreundete Frau vermisst in ihrer Stadt eine lebendige Arbeit an und mit der Bibel. Sie erzählt manchmal, dass sie versuche, allein in der Bibel zu lesen, dass sie dieses Vorhaben aber noch jedesmal frustriert aufgegeben habe, weil ihr eine Gruppe von Gleichgesinnten fehlt. "Allein verstehe ich vieles nicht, mir fehlen weitere Informationen, und ich weiß nicht, woher ich sie bekommen könnte."
Zugleich aber hat sie die Erfahrung gemacht, dass in einem bestehenden Bibelkreis das Bibelgespräch immer noch auf eine Weise stattfindet, die sie keineswegs zufriedenstellt: "Da wird mir viel zu stark ‚Gottes Wille‘ betont, den ich herauszufinden und zu befolgen hätte. Gott ist der strenge Herrscher und Richter, dem ich mich unterzuordnen habe, weil ich sonst bestraft werde. So aber ist mein Gottesglaube nicht. Ich habe Gott in meinem Leben anders erfahren – menschenfreundlich, zugewandt, er unterstützt mich." Diese Frau – soweit ich das als ihre Freundin wahrnehmen kann – hat einen sehr zuversichtlichen Gottesglauben: Sie hat gelernt darauf zu vertrauen, dass sich vieles in ihrer Lebensgeschichte fügt und dass sie auch in den schmerzhaften Phasen dieser Lebensgeschichte von Gott getragen ist, dass sie nicht alles selbst regeln muss im Leben und dass kein Umweg völlig umsonst ist. Und dieses Gottvertrauen möchte sie gerne im Gespräch mit biblischen Texten durchdenken, vielleicht bestätigen, vielleicht verändern. Aber wie?
Was haben wir uns also eingehandelt seit den 60er Jahren außer einer großen Verwirrung darüber, ob es sich überhaupt noch lohnt, die Bibel zu lesen? Ich will versuchen, die Schwierigkeiten, die sich in den Beispielen zeigen, deutlich zu benennen:
Auch bei den konservativsten katholischen ChristInnen hat sich herumgesprochen, dass das, was in der Bibel erzählt wird, nicht einfach ‚wahr‘ ist im Sinne einer historischen Tatsache: Die Hypothese vom Urknall als Beginn der Welt ist unter naturwissenschaftlichem Gesichtspunkt wahrscheinlicher als die Erschaffung der Welt in sieben Tagen. Der Auszug aus Ägypten und der Durchzug durch das Rote Meer haben – wenn überhaupt – nur einen ganz kleinen historischen Kern. Das Buch Rut, diese wunderbare Erzählung von der Treue und Liebe zweier Frauen, ist wahrscheinlich von vorne bis hinten fiktiv, also dichterische Erfindung – ebenso die Erzählung vom dickköpfigen Propheten Jona und dem Fisch.
Aus dem Neuen Testament müssten wir neben den Kindheitserzählungen am Anfang des Matthäus- und des Lukasevangeliums auch die allermeisten Wundererzählungen als „nicht historisch" kennzeichnen. Lediglich Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen könnten wir zumindest von der Sachaussage her stehen lassen. Von der Bergpredigt, dieser aufrüttelnden Rede Jesu bei Matthäus, blieben nur einige Kernsätze ungeschoren. Das Johannesevangelium, das in unseren Gottesdiensten so häufig verwendet wird, ist als historische Quelle über Jesus von Nazareth mehr als unzuverlässig. Von den 13 Paulusbriefen hat Paulus selbst wohl nur sieben geschrieben, und dass Petrus höchstselbst die Petrusbriefe verfasst hat, ist nicht anzunehmen.
Zusätzlich verwirrt den Nicht-Theologen und auch sehr viele TheologInnen, dass innerhalb der Bibelwissenschaftlerzunft diese Sache mit den ältesten Schichten und den historischen Kernen der Texte sehr umstritten ist. Man kann sich an nichts wirklich halten.
Aber was folgt daraus? Ist die Bibel noch ‚Wort Gottes‘? Kann nur das ‚Wort Gottes‘ sein, was als historisch wahrscheinlich gelten kann?
Viele denken, es gäbe nur eine Alternative: Entweder glaube ich das alles so, wie es dasteht – und ‚glauben‘ meint in diesem Zusammenhang für historisch wahrscheinlich halten –, oder ich kann und brauche diese Bibel als Erwachsener nicht ernst zu nehmen. Ich lege ihre Erzählungen als ‚Kindermärchen‘ beiseite, weil sie meinem Anspruch an Wahrheit nicht genügen.
Der Umgang mit biblischen Texten im kirchlichen Alltag spiegelt genau diese Problematik. In der Regel wird in der Predigt der Bibeltext so behandelt, als ob das in ihm Erzählte eine Nachricht der Tagesschau wäre. Vor allem bei der Auslegung von Jesusgeschichten spielt der Erzählcharakter des Textes keine Rolle. Spricht man den Priester auf den Sachverhalt an, lautet die Antwort meistens: "Ich weiß das wohl – aber das kann ich den Leuten in der Predigt nicht zumuten!" Damit aber wird den ChristInnen im liturgischen Rahmen ein geistiges Doppelleben abverlangt: Im Gottesdienst müssen sie ihr mehr oder minder großes Wissen um die Fiktionalität der Bibeltexte verdrängen. Die m. E. unheilvolle Allianz von ‚glauben‘ und ‚für historisch tatsächlich geschehen halten‘ wird fortgesetzt.
Wie zentral diese Fragen an den Nerv des christlichen Selbstverständnisses gehen, zeigt der Erfolg, den das Buch "Verschlusssache Jesus" Anfang der 90er Jahre in Deutschland hatte. Der Verdacht, die Christinnen und Christen könnten von der Kirche über Jesus und das frühe Christentum belogen worden sein, hat die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen sehr bewegt. Bis heute ist der Boom neuer Bücher, die die ‚Wahrheit‘ über diesen Jesus von Nazareth kundtun wollen, nicht ganz abgeebbt.
Für andere bleibt angesichts der verwirrenden historischen Fragen als Kern der biblischen Botschaft ihre ethische Bedeutung stehen. "Wenn ich die Texte schon nicht als Tatsachenberichte verstehen kann, dann doch zumindest als Handlungsanweisung und Richtschnur für mein Leben. Ich erfahre aus ihnen Gottes Willen."
Das Erschreckende dabei ist jedoch, dass bei einem solchen Zugang zur Bibel Gott sehr schnell wieder auf das Bild des Herrschers und Richters der Welt reduziert wird. Dieser Gott scheint das Leiden der Menschen zu fordern – und insbesondere Frauen stehen in der Gefahr, ihr Lebensleid als von Gott gewolltes Kreuz klaglos und unter Berufung auf bestimmte Bibeltexte auf sich zu nehmen, statt sich zur Wehr zu setzen. Dem Menschen bleibt Gehorsam angesichts dieses obersten Herrn.
Für viele ChristInnen ist ein solches Gottesbild jedoch nicht mehr tragbar – leider fällt so für sie auch das Bibellesen flach.
Und schließlich gibt es noch einen nicht zu unterschätzenden Anteil sachbezogener Verständnisprobleme: Die Bibel ist tatsächlich eine in Teilen schwierige Buchsammlung, weil ihre Texte einfach uralt sind – bis zu 3000 Jahre – und vielfach eine fremde Kultur spiegeln: Nomaden in der Wüste, Traditionen und Gebräuche des vorderen Orients, politische Verhältnisse einer Zeit und Region, die nicht die unsrigen sind.
Die biblischen Texte setzen jedoch einfach voraus, dass ihre LeserInnen mit dieser Kultur und dem entsprechenden Umfeld vertraut sind. Das macht ihre Lektüre für uns heute oft schwierig. Vor allem alleine gerät man schnell an seine Grenzen.
Eine wichtige Kategorie, die nach meinem Verständnis im Zentrum des christlichen Glaubens steht und die eine andere Vorstellung von ‚Wahrheit‘ zugänglich macht, lautet ‚Erfahrung‘. Was gemeint ist, möchte ich zunächst am Beispiel der Gotteserfahrung verdeutlichen.
Bei aller Zugehörigkeit zur Kirche lassen sich heutige ChristInnen ihre Vorstellung von Gott, v.a. das Bild eines urteilenden oder gar strafenden Gottes, nicht mehr einfach vorsagen oder aufdrücken, wenn die Vorstellung ihren Glaubenserfahrungen mit diesem Gott widerspricht. Das Bild, die Vorstellung, die Menschen sich von Gott machen, ist maßgeblich davon geprägt, wo und wie sie diesem Gott begegnen. Aus Gesprächen mit anderen Erwachsenen in unserer Gemeinde und mit SchülerInnen aus der gymnasialen Oberstufe weiß ich, dass viele sich Gott personal vorstellen, als Freund oder Freundin, als Vater und Mutter, als Beschützer und in gewisser Weise auch als Garant für Gerechtigkeit in der Welt. Manche stellen ihn sich auch als unpersönliche Macht vor, die ‚irgendwie‘ die Welt zusammenhält, die Menschen in Beziehung zueinander bringt und ihr Leben miteinander und in der Welt ermöglicht.
Natürlich werden die Gottesvorstellungen davon genährt, was man von anderen – auch aus der Bibel – über diesen Gott gehört und gelernt hat. Immer hat jedoch das Gottesbild mit den Lebenserfahrungen der Menschen zu tun. Das, was den Menschen jeweils widerfahren ist, spiegelt sich in ihren Vorstellungen von Gott. So wirft zum Beispiel das Erlebnis von Leid das Vertrauen in einen guten und gerechten Gott zunächst völlig über den Haufen. Angesichts seines Leids oder des Leidens anderer muß sich der betroffene Mensch mit seinem Glauben an Gott neu auseinander setzen – er muss seine Vorstellungen von Gott verändern, solange bis sie mit seinen neuen Erfahrungen übereinstimmen.
So können und müssen im Verlauf eines Menschenlebens verschiedene Aspekte einer Vorstellung von Gott in den Vordergrund treten.
Als ‚wahre‘ Aussage über Gott erkennen wir also nicht einfach das an, was uns jemand zu glauben vorschreibt, und schon gar nicht das, was sich als historisch tatsächlich ereignet beweisen lässt. Als ‚wahr‘ erkennen wir das an, was mit unserer Lebens- und Gotteserfahrung in Übereinstimmung steht. Das, worauf wir uns in unserem Leben verlassen, wovon wir uns getragen wissen.
Die Kategorie der Erfahrung spielt in den letzten Jahren auch zunehmend in der Bibelwissenschaft eine tragende Rolle. Sie ist außerdem geeignet, uns heutige Glaubende in ein fruchtbares Gespräch mit dem uralten Text zu bringen.
Womit halten Sie es: Mit der These vom Urknall und der Entstehung allen Lebens aus dem Wasser oder mit dem Schöpfungsbericht in Genesis 1 und 2? Ich jedenfalls erinnere mich, dass wir irgendwann im Religionsunterricht der 7. oder 8. Klasse aufgefordert wurden, zeichnerisch darzustellen, wie wir uns die Entstehung der Welt vorstellen. Welchen Anteil hat Gott daran? Welchen die Gesetze der Evolution?
Damals fügte ich zum ersten Mal Glaubensüberzeugung und naturwissenschaftliche Hypothesen zu der Vorstellung zusammen, dass Gott an allem Anfang den Urknall losgelassen und so das Universum mit all seinen Entwicklungen und Naturgesetzen in Gang gesetzt hatte. Die Frage ist nur: Was habe ich danach mit den Schöpfungserzählungen gemacht, die ja nun für mich völlig überflüssig waren?
Jahrelang habe ich diese Texte ignoriert. Sie spielten für mich und meinen Glauben nicht die geringste Rolle. Zwar habe ich zumindest den ersten Schöpfungsbericht in den Gottesdiensten der Osternacht gehört. Ich meine auch, dass ich mich an seiner dichterischen Sprache gefreut habe, aber ansonsten lag dieser Text auf Eis.
In die Finger geraten ist er mir dann erst wieder im Zusammenhang mit feministischer Theologie und seitdem setze ich mich immer mal wieder mit ihm auseinander. Damals beschäftigten wir uns unter anderem mit der Frage, woher es kommt, dass in traditioneller kirchlicher Lehre die Frau als untergeordnetes Wesen, als ‚Mensch zweiter Klasse‘ galt und manchmal heute noch gilt. Und wir überlegten auch, ob und wie dieser uralten Argumentation zu begegnen sei. Damals wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass es zwei Schöpfungserzählungen gibt, die bei ihren LeserInnen Unterschiedliches bewirken wollten. Es kann sein, dass mir das vorher schon mal jemand mitgeteilt hatte, aber wirklich gewusst habe ich es bis dahin nicht.
Fragen tauchten auf: Warum gibt es zwei Schöpfungserzählungen – oder wichtiger noch: Zu welchem Zweck gibt es sie? Mir wurde deutlich: Diese ganzen biblischen Texte sind nicht direkt für heutige Menschen geschrieben, dass wir sie lesen und einfach so verstehen könnten. Sie sind auch nicht als Gottes Wort für alle Zeit und Ewigkeit geschrieben.
Vielmehr sind sie in einer bestimmten, lange vergangenen Zeit entstanden, sie spiegeln die Lebensumstände dieser Zeit und sie bewahren und verarbeiten die Erfahrungen der damaligen Menschen. Sie sind für Menschen geschrieben worden, die in einer bestimmten geschichtlichen Situation standen.
So bedrängten die Menschen des Volkes Israel im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. – der möglichen Entstehungszeit der Schöpfungserzählung in Genesis 1 – die Erfahrungen von Krieg, Tod, Unterdrückung und Vertreibung. Sie waren von den Babyloniern verheerend besiegt worden. Ihre Hauptstadt Jerusalem war erobert und der Tempel in der Hauptstadt war zerstört worden. Die Angehörigen der Oberschicht mussten ins Exil an den königlichen Hof nach Babylon gehen. Im Land herrschten Not und Elend der Nachkriegszeit.
Die grundlegende Frage, die sich an diese Leiderfahrungen knüpfte, war die Frage nach der Treue und der Macht des Gottes Israels. Warum sorgte Gott nicht besser für sein Volk? Warum ließ er dieses entsetzliche Leiden zu? Hatte Gott sein Volk verstoßen? Ließ er es absichtlich leiden? Oder war er gar nicht der Mächtige, war er etwa den Göttern Babylons unterlegen?
Hilfe, um die Leiderfahrungen zu bewältigen, gab es damals für die Menschen des Volkes Israel in Form von Erzählungen. In den Erzählungen wird die neue, schmerzhafte Erfahrung mit dem Leben in Übereinstimmung gebracht mit dem, was man bisher von Gott geglaubt hat. Wie das im Einzelnen im Schöpfungsbericht geschieht, soll gleich betrachtet werden. Zunächst sei aber der Perspektivenwechsel im Umgang mit der biblischen Erzählung auf den Punkt gebracht:
Damit, dass eine Erzählung Hilfe bei der Bewältigung von Erfahrung sein will, kommt die Erfahrung der Menschen damals in unseren Blick. Und wir heute können an diese Erfahrungen anknüpfen, wenn wir folgende Frage als Brille benutzen, um den Text zu lesen:
Welche Erfahrungen mit dem Leben und mit der Welt könnten die Menschen gemacht haben, denen diese Geschichte erzählt wurde?
Mit einer solchen Fragehaltung kommen wir von der Engführung weg, dass nur dann von der Wahrheit eines Textes gesprochen werden kann, wenn das in ihm Berichtete sich historisch nachweisen lässt. Statt dessen gibt es ein anderes Maß für Wahrheit: Wie geht die Erzählung mit den Erfahrungen von Menschen um? Werden verschiedene Erfahrungen wahrgenommen, ernst genommen, reflektiert? Welche Angebote zur Verarbeitung von Erfahrung enthält der Text? Beschwichtigt und beruhigt er bloß? Bedient er lediglich die Erwartungen seiner LeserInnen? Oder mutet die Erzählung auch Veränderungen und ganz andere Sichtweisen zu, die eingefahrene Seh- und Deutegewohnheiten aufbrechen können?
Mit dieser Fragehaltung gewinnen wir meiner Ansicht nach viel, denn wenn wir biblische Erzählungen so lesen, sind wir nah an der Frage nach unserer eigenen Erfahrung und danach, ob der Text jedem und jeder einzelnen dazu noch etwas anzubieten hat.
Das Gemeinte sei für den sogenannten ersten Schöpfungsbericht nun konkretisiert. Liest man – vorzugsweise laut und nach Möglichkeit mit einer Gesprächsgruppe – Gen 1,1–2,4a, kann man verschiedenartige Beobachtungen am Text zusammentragen.
Zunächst fällt die dichterische Form des Textes auf: Die einzelnen Schöpfungstage werden sozusagen rhythmisch beschrieben, die Beschreibung jedes einzelnen ist gleich aufgebaut und enthält bestimmte wiederkehrende Elemente wie "Dann sprach Gott:" und "Es wurde Abend, und es wurde Morgen: x-ter Tag."
Sammelt man in einem nächsten Schritt Beobachtungen zum Inhalt des Textes, lässt sich Besonderes dazu beobachten, auf welche Weise denn die Welt geschaffen wird. Gott tritt nicht als Töpfer oder anderweitiger Handwerker in Aktion, der die Geschöpfe herstellt. Vielmehr gestaltet Gott die Welt, indem er spricht. Allein auf sein Wort hin werden, d.h. entstehen die einzelnen Schöpfungswerke. Außerdem gestaltet Gott, indem er das Gewordene benennt und auf diese Weise die verschiedenen Geschöpfe voneinander abgrenzt und unterscheidbar macht.
Ab dem dritten Tag findet sich dann als Abschluss der einzelnen Schöpfungsvorgänge jeweils der Satz "Gott sah, dass es gut war." Das Geschaffene wird also ausdrücklich gut geheißen und für die LeserInnen als Gottes gute Schöpfung gekennzeichnet.
Auch ein Blick auf die Reihenfolge der Schöpfung lohnt sich – man sollte diesen Aspekt nicht vorschnell durch einen Vergleich mit der Evolutionstheorie beiseite lassen. Fasst man V. 1 als Überschrift für den gesamten Schöpfungsbericht auf, beginnt der Text in V. 2 mit einer Beschreibung von vier Elementen, die gemeinsam das bedrohliche und lebensfeindliche Chaos bilden: eine feindliche Erde, die noch Tohuwabohu, d.h. "wüst und leer", ist, Finsternis, Urmeer und Wasser.
Zunächst grenzt Gott aus diesem Chaos die geordnete Welt aus (VV. 3–10). Er schafft das Chaos nicht ab, aber er setzt ihm Grenzen, indem er z.B. Licht von Finsternis scheidet, die Wasser des Urmeers von den Wassern des Himmels und das trockene Land vom Wasser. Zudem wird das Chaos durch Namensgebung gebändigt, denn das, was benannt werden kann, wird in gewisser Weise angeeignet.
Ausführlich beschreibt der Text danach, wie Gott nach und nach die geordnete Welt als Lebenshaus einrichtet und mit Lebewesen füllt (VV. 11–31). Am Schluss übergibt Gott den Menschen die Welt als guten Lebensraum für alle Geschöpfe (VV. 28–30) und vollendet die Schöpfung durch den siebten Tag als Ruhetag (2,2–3).
Welche Erfahrungen bewegten nun die Menschen, für die dieser Text verfasst worden ist? Und welche Erfahrungen bewegen heute Menschen, denen ein solcher Text wichtig ist? Geht es ihnen um die Frage, wann und wie tatsächlich die Welt entstanden ist? Ich meine, es wird keine Chronologie der Weltentstehung im Sinne der Evolutionstheorie geboten, sondern etwas anderes:
In Genesis 1 ist die Welt eine geordnete und eine von Gott für gut befundene Welt. Sie ist, das entspricht einer allgemeinen positiven Lebenserfahrung, ein Haus für den Menschen und alle anderen Lebewesen, d.h. ein Ort der grundsätzlichen Geborgenheit, an dem sich leben lässt und an dem Leben gelingt. In diesem Lebenshaus hat der Mensch die besondere Aufgabe, über die Schöpfung zu herrschen, d.h. für die übrige Schöpfung zu sorgen, Verantwortung für sie wahrzunehmen.
Ein solcher Textaspekt ist für Menschen aller Zeiten wichtig, um sich selbst in der Welt zu verstehen, um eine Antwort zu finden auf die grundsätzliche Sinnfrage: Wozu bin ich / ist der Mensch auf der Welt? – Er wird heute wichtig angesichts großer Umweltschädigungen durch uns Menschen. Aber er wird auch heute noch positiv erfahren, wenn wir uns draußen bewegen und so etwas spüren können wie einen Einklang mit der Natur, unserer Mitschöpfung.
Die Welt ist eine von Gott geschaffene Welt. Alles in der geordneten Welt ist Schöpfung, ist Geschöpf Gottes. Sonne und Gestirne, Naturphänomene und andere Lebewesen sind nicht selbst Götter, sondern Mit-Geschöpf.
Das ist ein Aspekt, der vor allem im Hinblick auf die damaligen Nachbarvölker Israels wichtig war: Ägypter, Sumerer, Babylonier. Bei diesen Völkern, die für das Volk Israel immer eine militärische Bedrohung darstellten, galten beispielsweise die Gestirne als Götter, denen der Mensch zu dienen hatte. Diese Götter werden nun als Götzen entlarvt und als Lampen, die der Gott Israels an das Himmelsgewölbe setzte, fast lächerlich gemacht. Der biblische Schöpfungsbericht entzaubert somit die Natur und setzt damit den Menschen in ein freieres Verhältnis zu ihr. Heute wird in unserem Kulturraum weniger die Natur vergöttert als andere Aspekte des Lebens: Wirtschaftsfaktoren, sogenannte Sachzwänge und seit neuestem die Nachrichten von der Börse, die inzwischen einen unverhältnismäßig großen Anteil in Nachrichtensendungen einnehmen.
Die geordnete Welt ist eine Welt, in der das drohende Chaos und seine Mächte nicht einfach verschwunden sind: Das Licht ist zwar geschaffen und von der Finsternis getrennt – aber es gibt noch die Finsternis. Die Wasser des Urmeeres sind zwar vom trockenen Land getrennt und gebändigt, aber es gibt sie noch. Sie könnten wieder hervorbrechen und das Lebenshaus erneut bedrohen oder gar zerstören, wie es bei der Sintflut geschieht. Dennoch ist in dieser geordneten Welt das Chaos von Gott gebändigt. Die Welt des Anfangs ist eine gute und geschützte Welt.
In wessen Erfahrung könnte dieser Aspekt der Geschichte sprechen? Zum einen handelt es sich um eine Aufnahme einer alltäglichen Erfahrung: Die Welt ist nicht einfach ein problemloser, in allem geregelter, geordneter und leicht zu handhabender Ort. Es gibt die Erfahrung anderer, bedrohlicher, chaotischer Mächte. – Dieser Textaspekt lässt sich leicht auf heutige Erfahrung übertragen: Man denke nur an die Erdbeben im Sommer 1999 in der Türkei und Griechenland, an die Waldbrände in den USA und die Überschwemmungen in Indien und Bangladesch im Sommer 2000.
Dahinter stecken aber weitere Erfahrungen: Als dieser Text im 5. Jahrhundert v. Chr. erzählt wurde, lag der letzte Krieg in Israel noch nicht weit zurück. Krieg bedeutet für die betroffenen Menschen, dass das Leben fundamental bedroht ist, dass die Ordnung außer Kraft gesetzt ist und das Chaos herrscht.
In einer solchen Situation spricht dieser Text Mut und Trost zu. Der Mensch darf sich darauf verlassen: Gott hat diese Welt dem Chaos abgerungen. Er hat seine Energie hineingesteckt – sie ist ihm wichtig – er wird sie nicht im Stich lassen. Das Chaos wird nicht das letzte Wort behalten, wird im Letzten nicht übermächtig sein. Der Mensch darf darauf vertrauen: Gott wird, wie schon am Anfang, dem Chaos wieder die Ordnung abringen. Er hat die Macht, mitten im Chaos eine geordnete Welt zu erschaffen.
Das Volk Israel erfuhr Chaos und Lebensbedrohung in der Nachkriegsnot, der Unterdrückung und Vertreibung bzw. Verbannung im 6. und 5. Jahrhundert – und seitdem immer wieder. Angesichts dieser Chaotisierung der Welt und Desorientierung der Menschen hält Genesis 1 den Glauben an die ordnende und lebensfreundliche Macht des Gottes Israels aufrecht. Wir können als Volk und Staat die Leiderfahrung des von Menschen verursachten Chaos im Moment nicht unmittelbar teilen. Ähnliche Chaoserfahrungen gibt es jedoch auch im Leben Einzelner, und der nächste kriegerische Konfliktherd ist weder räumlich noch zeitlich weit von uns entfernt.
Wohin führt nun die vorgestellte Art des Bibellesens, die nicht so sehr nach dem historischen Wahrheitsgehalt der biblischen Erzählungen fragt, sondern danach, welche Erfahrungen von Menschen der Text bewahrt und verarbeitet? Nach meiner Überzeugung ermöglicht ein derartiger Umgang mit dem Text ein Gespräch – ein Gespräch zwischen der im Text bewahrten Erfahrung anderer Menschen zu anderen Zeiten und den Erfahrungen, die Menschen – wir – heute machen. So erschließt sich die Wahrheit des Bibeltextes auf eine andere Weise. Heutige Erfahrungen können dadurch in einem neuen, anderen Licht erscheinen und vielleicht auf neue, andere Weise verarbeitet werden.
Das zeigt zum Schluss die Notwendigkeit, sich mit den in der Bibel bewahrten Zeugnissen auseinanderzusetzen: Wer nur im Saft der eigenen Erlebnisse kocht, gewinnt nicht viel dazu. Um Erlebnisse zu Erfahrungen verarbeiten zu können, bedarf es des Gesprächs und der Auseinandersetzung mit Deutungsmustern. Das Erste Testament bietet eine Fülle solcher Deutungsmuster, nicht nur nette und gefällige, sondern auch überraschende und unbequeme. Gehen Sie auf die Suche nach den Gottes- und Glaubenserfahrungen der Menschen vor Ihnen und verbinden Sie sie, so kreativ Sie können, mit Ihren eigenen Deutungsmustern. Gott kann dann in diesem Gespräch mit den Bibeltexten erfahrbar werden.
Originaladresse:
http://www.bibfor.de/archiv/00-1.bickmann.htm