Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341
Stefan Lücking, Münster
Ein Nachruf aus der Sicht eines Exegeten
Druckversion (PDF) | Informationen zum Autor | Ausgabe 1/2000 |
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Abstract
The French sociologist Pierre Bourdieu died in the evening of January 23, 2002.
This article discusses three reasons why biblical scholars should read the works of Bourdieu.
(1) In his work Le sens pratique Bourdieu claims that the starting point of critical science is the self-objectivation and self-reflection of the work of the scientist.
Biblical exegesis however often lacks self criticism of its own cultural and social presuppositions.
(2) The critique contained in L'ontologie politique de Martin Heidegger is not only important because of Heidegger's influence on biblical hermeneutics,
but also because it is an excellent example of rhetorical criticism.
(3) Finally, in his already classical work La distinction Bourdieu describes taste and cultural distinction as means of power and social differentiation.
The influence of style on social domination is often neglected in biblical social history on the one hand and biblical stylistics on the other hand.
Mit Pierre Bourdieu verliert nicht nur die Soziologie einen ihrer bedeutendsten Köpfe. Seine Bedeutung geht weit über die Soziologie hinaus. Die deutschen Nachrichten und Feuilletons erinnern ihn vor allem als einen der letzten politisch engagierten Intellektuellen, der sich mit Vehemenz gegen den neoliberalen Ausverkauf der sozialen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts eingesetzt hat, weil für ihn der europäische Sozialstaat und die Zivilisiertheit unserer Städte Kulturleistungen waren „so unwahrscheinlich und kostbar wie Kant, Beethoven, Pascal und Mozart“ (vgl. Mathias Greffrath in der taz Nr. 6659 vom 25. Januar 2002, S. 4).
Aber Pierre Bourdieu hat auch wissenschaftlich weit über die Grenzen seiner Disziplin hinaus gewirkt, weil er selbst ein Grenzgänger zwischen den Welten war: zwischen Ethnologie und Soziologie, Philosophie und Kulturwissenschaften. Genauso wie er ein Grenzgänger war zwischen der ländlich kleinbürgerlichen Welt seiner Kindheit und den elitären Kreisen der Pariser Collèges, zwischen den kulturellen Traditionen der Kabylen in Algerien und den feinen Unterschieden der französischen Kultur. Für mich selber gehören die Schriften Pierre Bourdieus zu den wenigen wissenschaftlichen Werken, die ich noch mit Freude und Gewinn lesen kann – wohl, weil noch in den abstraktesten Überlegungen diese verschiedenen Welten lebendig werden. Was für eine Erholung gegenüber den weltfremden Werken deutscher Soziologen, in denen ungestraft so ungeheuerliche Sätze stehen können wie: „Schon seit mehr als dreihundert Jahren gibt es in Europa keine Hungersnöte mehr“ (Luhmann (1994) 166) – ganz so, als ob z. B. Irland nicht zu Europa zählte, obwohl es doch während der Zeit der großen Hungersnöte sogar zum Kernland der kapitalistischen Entwicklung gehörte.
Ich möchte den Tod Pierre Bourdieus zum Anlass nehmen, auf einige Gründe hinzuweisen, warum es sich lohnt, Pierre Bourdieu auch für die biblische Exegese neu zu entdecken.
Bourdieu hat seine wissenschaftliche Karriere in den sechziger Jahren mit Forschungen über die Kultur der Kabylen, der Berber Algeriens, begonnen. In seinem 1980 erschienen Buch Le sens pratique blickt er auf diese Zeit zurück und stellt fest, dass es der Soziologie darum gehen müsse, die europäische Gesellschaft mit dem gleichen ethnologischen Blick zu betrachten, mit dem Europäer gewöhnlich nur fremde Kulturen wie die der Kabylen wahrnehmen.
In dem ewigen soziologischen Streit zwischen Subjektivismus und Objektivismus sieht er das Grundproblem darin, dass beide Haltungen die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer eigenen Wissensproduktion ausklammern. Um den starren Gegensatz zwischen beiden zu überwinden, müsse auf der einen Seite (Bourdieu nimmt hier als Beispiel den Strukturalismus) der Objektivismus sich selbst objektivieren, d. h. er muss die eigene objektivierende Relation, den epistemologischen und sozialen Bruch mit der sozialen Wirklichkeit, die er erforscht, zum Gegenstand einer objektiven Untersuchung machen. Auf der anderen Seite müsse der Subjektivismus (Bourdieu denkt hier an die Phänomenologie) in einer zweiten εποχη die sozialen Bedingungen und den gesellschaftlichen Sinn der praktischen εποχη reflektieren, die notwendig ist, um das paradoxe Unterfangen auf sich zu nehmen, die unreflektierte Alltagserfahrung einer bewussten Reflexion zugänglich zu machen (vgl. Bourdieu (1980) 43–50). Von beiden Positionen her ist also die Voraussetzung für eine kritische Soziologie die Objektivierung des eigenen gesellschaftlichen Status als Wissenschaftler und die Reflexion über die Haltungen und Wertvorstellungen, die damit einhergehen.
Eine Reflexion auf die eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen täte auch einer Exegese gut, die den Anspruch hat, sich kritisch mit den biblischen Texten auseinanderzusetzen. Denn ein Grundproblem exegetischer Forschung besteht häufig darin, dass sie zwar die biblischen Texte und das darin enthaltene Weltbild kritisch unter die Lupe nimmt, nicht aber die eigenen Denkvoraussetzungen. Albert Schweitzer hat in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung anschaulich gezeigt, wie sehr sich die bürgerlichen Vorstellungen und Werte in der kritischen Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts durchsetzten. In den meisten Fällen war der kritisch rekonstruierte „historische Jesus“ eher ein bürgerliches Wunschbild, als eine historisch plausible Figur der Antike.
Die Situation hat sich im 20. Jahrhundert nicht grundlegend geändert. Aus der inzwischen vorhandenen Distanz betrachtet ist es erschreckend, wie sehr sich der Zeitgeist auch hier durchgesetzt hat. Möglicherweise ist das für eine Exegese, die auf der Höhe der Zeit bleiben will, kaum zu vermeiden. Aber das Problem wird dadurch verschärft, dass die Kritik der eigenen Denkvoraussetzungen und Wertvorstellungen in der Regel nicht einmal ein theoretisches Postulat ist. Nicht zufällig wird das gerade dort besonders deutlich, wo die Distanz zur antiken Lebenswelt am schärfsten in den Blick genommen wird. Rudolf Bultmanns Programm der Entmythologisierung hat seine Stärke darin, dass es auf die Gefahr aufmerksam macht, das Weltbild, in dem die biblischen Autoren denken und von dem her sie ihre Botschaft plausibel machen, mit der Botschaft selbst zu verwechseln. Bultmann ist außerdem konsequent genug, die eigenen weltanschaulichen Voraussetzungen bewusst zu reflektieren. Trotzdem gelingt es ihm nicht, eine kritische Einstellung gegenüber diesen Denkvoraussetzungen einzunehmen. Die existentiale Interpretation und ihre philosophische Voraussetzung sind der unverrückbare Maßstab der Interpretation. Aber eine Entmythologisierung der biblischen Texte, die nicht zugleich auch die bürgerliche Lebenswelt und das moderne Weltbild entmythologisiert, übersetzt die biblischen Texte nur in eine neue Mythologie. Im konkreten Fall Bultmanns gilt das insbesondere für die philosophische Grundlage der existentialen Interpretation: Heideggers Sein und Zeit. Ob es einen inneren Zusammenhang zwischen der Philosophie Heideggers und seiner Nähe zum Nationalsozialismus gibt – diese Frage hat sich Bultmann genauso wenig gestellt wie seine Zeitgenossen. Und selbst wenn kein innerer Zusammenhang bestehen würde, so müsste sich doch nach Auschwitz jeder philosophische Ansatz daran messen lassen, was er dazu beitragen kann, das Denken gegen totalitäre Ideologien wie den Nationalsozialismus zu immunisieren. Erst eine solche kritische Selbstreflexion wäre ein echtes Ringen um die Wahrheit des christlichen Glaubens, um das es Bultmann mit seinem Entmythologisierungsansatz gerade ging.
Die eigentliche Arbeit im Sinne der von Bourdieu geforderten zweiten εποχη würden dann erst beginnen: Die gesellschaftliche Position in den Blick zu nehmen, die mir die Muße zur Beschäftigung mit den biblischen Texten und der antiken Kultur verleiht, und die übergeordneten Zwecke, Einstellungen und gesellschaftlichen Regeln zu reflektieren, die meine Arbeit als Exeget bestimmen.
Der Mythos, in den Bultmann die Mythen der biblischen Texte übersetzt hat, war die existentiale Ontologie Martin Heideggers. Nicht nur deshalb sollte ein anderes Buch von Pierre Bourdieu zur Pflichtlektüre eines Exegeten gehören: Die politische Ontologie Martin Heideggers. Dieser Text, der erstmals 1975 in der von Bourdieu herausgegebenen Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales erschien, wurde 1988 im Zusammenhang mit der Diskussion um das Heidegger-Buch von Víctor Farías sowohl in Frankreich als auch in Deutschland als Monographie neu veröffentlicht. Bourdieu kritisiert darin die verheerende Wirkung Martin Heideggers auf die französischen Intellektuellen, die der ebenso indirekten und häufig unreflektierten Wirkung Heideggers auf die biblische Hermeneutik ähnlich ist. Aber das Buch ist nicht nur wegen dieser Analogie lesenswert, sondern auch wegen seiner Methode. Denn Bourdieu analysiert die Ontologie Martin Heideggers als eine rhetorische Strategie und zeigt dabei ein philologisches Gespür für die Finessen der Rhetorik, das vielen Exegeten immer noch fehlt.
Gegenüber der Mehrzahl seiner französischen Kollegen hat Bourdieu den Vorteil, dass er Heidegger im Original lesen kann. Im Vergleich zu den deutschen Lesern dagegen kommt ihm entgegen, dass für ihn die deutsche Sprache dennoch eine Fremdsprache bleibt. Diese Distanz hilft ihm, sich von der Wortgewalt der Heideggerschen Schriften nicht beeindrucken zu lassen, sondern sie als rhetorische Strategie zu analysieren. In einer brillanten philologischen Analyse zeigt er, mit welchen sprachlichen Mitteln Heideggers Philosophie die ihr eigentümliche Wirkung erzielt, wie Heidegger z. B. durch die Verwendung archaisch anmutender Neologismen eine Distanz zur Alltagssprache schafft und zugleich den Eindruck erweckt, den tieferen Sinn der Alltagserfahrung zu entschlüsseln.
Wie immer man zu Bourdieus Analyse im einzelnen stehen mag, sie zeigt ein Gespür für die rhetorischen Aspekte eines Textes, das vielen exegetischen Untersuchungen fehlt. Mich wundert es immer wieder, mit welcher Naivität bis heute die Alternativen, die Paulus in seinen Argumentationen aufstellt, als Spiegel realer Auseinandersetzungen gelesen werden. Noch immer zerbrechen sich unzählige Exegeten die Köpfe darüber, welche Gruppe innerhalb des zeitgenössischen Judentums denn die von Paulus unterstellte „Rechtfertigung aufgrund von Werken des Gesetzes“ überhaupt vertreten hat. Aber vielleicht benutzt Paulus diese Alternative gerade deshalb, weil sie von niemanden, nicht einmal seinen Gegnern geteilt wurde. Wenn es ihm gelingt, diese Position als natürliche oder gar einzig mögliche Alternative zu seiner eigenen Soteriologie plausibel zu machen, hat er schon fast gewonnen.
Das Gebiet, für das Pierre Bourdieu bekannt wurde, war die Kultursoziologie (eine gute Einführung in Bourdieus Soziologie bietet Honneth (1984)). In einer Zeit, als die deutsche Soziologie über das Ende der Klassengesellschaft räsonierte, weil sich die Lebenslagen in bezug auf die klassischen Kriterien wie Einkommen und Bildung immer weiter annäherten, veröffentlichte Bourdieu unter dem Titel La distinction ein ebenso grandioses wie abgründiges Panorama der französischen Gesellschaft, in dem er zeigt, wie sich soziale Differenzierung und Herrschaft über kulturelle Geschmacksurteile reproduzieren. Während die herrschenden Eliten ihre Machtposition durch die Werte der gehobenen Kultur und die feinen Unterschiede eines kultivierten Lebensstils verfestigen, entwickeln die anderen sozialen Schichten bis in die kleinsten Details ihrer Wohnzimmereinrichtung hinein einen Habitus, der ihnen den sozial vorgegebenen Status als selbst gewählten Lebensstil erscheinen lässt. „Man hat, was man liebt, weil man liebt, was man hat.“ (Bourdieu (1979) 195)
Die „feinen Unterschiede“ des Stils als Herrschaftsstrategie – das gilt für die Antike noch mehr als für die französische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Der „Hellenismus“ war in der Antike zunächst eine Frage des Stils, der Fähigkeit ein gehobenes Griechisch zu sprechen und zu schreiben, das sich an den klassischen Vorbildern messen konnte. Er war darüber hinaus aber auch eine Herrschaftsstrategie, die die Zugehörigkeit zur herrschenden Elite von der griechischen Bildung abhängig machte. Nur wer Gymnasion und Ephebeion absolviert und die darin vermittelten kulturellen Werte einverleibt hatte, konnte sich zur gesellschaftlichen Elite rechnen. Diese Mechanismen kultureller Distinktion wirkten auch noch im Römischen Reich, als das Griechentum die politische Macht längst verloren hatte. Der Freigelassene Trimalchio in Petronius' Satyrikon konnte zwar einen unermesslichen Reichtum anhäufen, aber aufgrund seines schlechten Geschmacks und seines stillosen Benehmens blieb er in den Augen der wahren Eliten doch immer noch ein Sklave.
Der Einfluss kultureller Distinktion ist also für die Antike ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Umso erstaunlicher ist es, dass Ekkehard und Wolfgang Stegemann in ihrer Urchristlichen Sozialgeschichte die Faktoren Bildung und kulturelle Distinktion nicht einmal erwähnen, wenn es darum geht, Kriterien für die soziale Differenzierung in der Antike zu benennen (vgl. Stegemann (1997) 58–69). Über die triviale Einsicht hinaus, dass die feinen Unterscheide kultureller Distinktion für die antike Gesellschaftsstruktur eine enorme Bedeutung hatten, böten die empirischen Studien Bourdieus zu den Geschmackskonventionen der modernen Gesellschaft sicher einige Anregungen, um ein ähnlich differenziertes Panorama der Geschmacksurteile in der antiken Gesellschaft zu entwerfen.
Schließlich gehören die feinen Unterschiede des Stils zur ureigenen Domäne der biblischen Exegese: der sprachlichen Analyse von Texten. Leider fristen Stiluntersuchungen innerhalb der Exegese eher ein Schattendasein. Einer der wenigen deutschsprachigen Exegeten, die sich intensiv mit Fragen sprachlichen Stils auseinander gesetzt haben, ist Marius Reiser. Man kann nur hoffen, dass von seiner jüngst erschienenen Einführung in Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments die notwendigen Impulse ausgehen, um den Aspekt der Stilistik innerhalb der biblischen Exegese neu zu beleben. Allerdings vernachlässigt auch Reiser die soziale Grundlage der Unterscheidung zwischen dem hohen und niederen Stil, über die die antiken Theoretiker noch ganz unverblümt sprechen.
An nichts anderem wird die gesellschaftliche Position der biblischen Autoren so deutlich wie an ihrem Stil. Gegenüber dem attizistischen Stilideal der herrschenden Eliten wirken die Texte der Septuaginta und des Neuen Testaments primitiv und ungehobelt. Trotzdem wird am Stil der Texte deutlich, dass dieser Unterschied nicht allein auf dem (sozial bedingten) Unvermögen beruht, im gehobenen Stil zu schreiben. Vielmehr dient die Pflege eines eigenen Sprachstils nicht nur in jüdischen, sondern auch in christlichen Texten dazu, sich gegenüber der dominierenden Kultur zu behaupten und eine Sprache zu entwickeln, die dem eigenen Selbstverständnis eher entspricht als das gehobene Griechisch des Attizismus. Interessant sind in dieser Hinsicht auch die stilistischen Unterschiede zwischen den Texten. Was verraten die stilistischen Unterschiede zwischen den Paulusbriefen und dem Johannesevangelium, zwischen Markus und Lukas, zwischen dem Hebräerbrief und der Johannesoffenbarung über den sozialen Kontext, in dem die Texte entstanden sind? Inwieweit fügt sich der Habitus, der sich in diesen Sprachstilen ausdrückt, in die gesellschaftlichen Verhältnisse? Inwieweit vermag er sie zu transformieren? Eine Ahnung davon, welche Bedeutung die Stilkritik für die Sozialgeschichte des frühen Christentums haben könnte, vermittelt das zweite Kapitel der Mimesis von Erich Auerbach (vgl. Auerbach (1946) 28–52).
Ich denke, dass die Beschäftigung mit den Werken Pierre Bourdieus der exegetischen Forschung eine Menge neuer Impulse geben könnte. Vielleicht nehmen auch andere – so wie ich – seinen Tod zum Anlass, einen Blick in seine Texte zu werfen.
Werke anderer Autoren:
Originaladresse:
http://www.bibfor.de/archiv/02-1.luecking.htm
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