Biblisches Forum

Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341

Jesaja Michael Wiegard, Selm

Der fremde Gott der Bibel

Ein Gespräch mit Thomas Ruster


  Druckversion (PDF)   Informationen zum Autor gohome.png  Ausgabe 2004

Inhalt:


Seit knapp drei Jahren liegt die Quaestio disputata „Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion“[1] als Buch vor – und ihr Verfasser Thomas Ruster hat einige Unruhe ausgelöst, vor allem in der Pastoraltheologie und Katechese.

Einer der Streitpunkte, der diese Debatte auch für das Biblische Forum interessant macht, ist die Forderung Rusters, der Religionsunterricht müsse in die Welt der Bibel, in das biblische Wirklichkeitsverständnis einführen. Im Gespräch mit Jesaja Michael Wiegard erläuterte Thomas Ruster einige Eckdaten seines Entwurfs.

Einführung in die fremde Welt der Bibel

J. M. W.: Das heißt, der Anknüpfungspunkt wären nicht die eigenen guten Erfahrungen. Wir halten Mahl im Kreis der Familie und das ist dann auch so, wenn wir mit Gott Mahl halten. Deswegen gehen wir zur Eucharistie, was ja, wenn man es durchdenkt und sich den Alltag der Kinder ansieht, tendenziell lächerlich wird. Das ist nicht mehr der Anknüpfungspunkt, sondern der Anknüpfungspunkt zur Vermittlung von Christentum wäre die Frage: Kannst du dich darauf einlassen, dass es überhaupt eine andere Wirklichkeit gibt, als das, was dich alltäglich begleitet, prägt und umgibt?

Th. R.: Ja, würde ich auch so sagen, wobei die Frage so gar nicht gestellt werden muss. Mindestens so lange es Religionsunterricht gibt, hat er das Recht, einfach diese andere Wirklichkeit vorzustellen, in sie einzuführen, genauso wie der Französischlehrer eben die Wirklichkeit der französischen Sprache und ihrer Denkwelt und ihrer Kulturwelt vorstellt. Auch der Mathematiklehrer führt in eine fremde Welt ein, die Welt der Zahlen, die den Kindern keinesfalls von Anfang an vertraut ist. Und manche, nicht alle, aber manche finden Spaß daran und denken dann eben mathematisch. Und so kann es auch biblisch gehen. Der Religionsunterricht könnte darin bestehen, Schüler in den intertextuellen Zusammenhang der Bibel und ihrer späteren textlichen und kulturellen Hervorbringungen einzuführen.

Ich darf mal ein kleines Beispiel erzählen von einem Unterrichtsversuch in der Klasse 5. Da ging es um das Thema Himmelfahrt Jesu, und natürlich haben die Schüler oder hätten die Schüler von sich aus gedacht: ‚Himmelfahrt, das ist so was ähnliches wie Peterchens Mondfahrt oder wie Raumfahrt; er fliegt zum Himmel hoch.‘ Das ist in traditionellen Vorstellungsmustern durchaus denkbar. Aber wir haben es gar nicht daran zurückgebunden, haben gar nicht nach den Ausgangserfahrungen gefragt in diesem Unterrichtsprojekt, sondern haben ihnen einfach andere biblische Texte gegeben, die ähnliche Motive enthalten, z. B. die Himmelfahrt Elias oder auch die Wolke, die im Offenbarungszelt schwebt, oder die Wolke, die dem Volk Israel in der Wüste voran zieht, oder die Verklärung mit Mose und Elija, und haben sie einfach – in der Klasse 5 wohlgemerkt – aufgefordert, auf gemeinsame Motive in den Texten zu achten. Das haben sie auch sehr intensiv und sehr gerne gemacht, haben auch viel gefunden, und am Ende war die Tafel ein ganzes Netz von Verweisen: Das kommt da vor, die Wolke gibt es da schon, sie bedeutet da das oder sie hat diese Signifikanten, bedeutet eben das noch. So wird z. B. klar, etwa von Elija her, dass die Himmelfahrt etwas mit einer neuen Vollmacht zu tun hat, die die bekommen, die zurück bleiben. Das ist ja bei Elia das Motiv: Die Jünger des Elija können plötzlich auch Wunder wirken. Der Elischa kann sogar mit dem Mantel auf den Jordan schlagen und er teilt sich wie damals am Roten Meer – Aha! wieder eine Beziehung zum Exodus, wo ja auch schon die Wolke vorkommt. Und das Zurückgehen nach Hause in einer neuen Vollmacht ist ja offenbar auch ein wichtiges Motiv der Himmelfahrterzählung in der Apostelgeschichte. Solche, hier nur ansatzweise skizzieren innertextuellen Zusammenhänge und intertextuellen Zusammenhänge, das ist etwas Spannendes, und ich denke, da könnte ein Religionsunterricht Schritt für Schritt hineinführen.

Jenseits der historisch-kritischen Exegese

J. M. W.: Das heißt, von der biblischen Theologie her wäre das Ungenügen an dem ‚Nur‘ der historisch-kritischen Forschung, das sich in den letzten Jahren Bahn gebrochen hat und zu Gegenentwürfen wie kanonischer oder synchroner Exegese geführt hat, tendenziell ein Bundesgenosse für einen solchen Entwurf?

Th. R.: Ja, mit Sicherheit! Die historisch-kritische Exegese hat es ja – bei all ihren großen Verdiensten – auch dazu gebracht, dass die Bibel nach unserem neuzeitlichen, wissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis gelesen und gesehen wird.

Man kann es an einem Beispiel sehr klar sehen, bei dem Problem der Wunder. Das ist unserem neuzeitlichen Weltbild nicht kommensurabel. Also hat die Exegese und auch die darauf fußende Theologie dauernd versucht, die Wunder anders zu erklären, als bloße Zeichenhandlungen oder als Antitrick Jesu, um damals die Menschen zu überzeugen. Man hat quasi auf vernünftige Weise, nach unserer Vernunft, zu erklären versucht. Man hat das Wunder nicht Wunder bleiben lassen. Nach biblischem Wirklichkeitsverständnis können Wunder geschehen. Und die Frage ist nicht, wie können wir das verstehen, sondern die Frage ist, wie kommen wir in ein Wirklichkeitsverständnis hinein, wo so etwas wie diese Wunder überhaupt denkbar ist. Vielleicht ein kleines Beispiel, wir hatten letzten Sonntag das Evangelium von der Stillung des Seesturmes, das gilt als ein klassisches Naturwunder, das heute eben überhaupt nicht mehr verständlich ist. Wie kann man dem Wind und dem Wasser gebieten? Aber das Gebieten ist so ein biblisches Stichwort, es wird gewissermaßen ein Zeichensystem damit evoziert: ‚Aha, da geht es um jemanden, der gebietet.‘

Und die Gebote, das weiß ein biblisch denkender Mensch erweisen sich als stärker als die Wirklichkeit. Also ist durchaus so etwas denkbar, dass, wenn jemand gebietet, und zwar Jesus, dass sich dann etwas ändern kann in der Wirklichkeit. Wie immer das jetzt im Einzelnen vorstellbar sein mag: Die Frage der Jünger „Was ist das für ein Mensch, das ihm Wind und Wellen gehorchen“ deutet darauf hin, dass sie eben daran seine Göttlichkeit erkennen, dass er ein Gebietender ist, dass er gewissermaßen in der Logik der Gebote mit der Wirklichkeit umgeht.

Das ist nur ein kleiner Hinweis, aber in diese Richtung müsste man versuchen zu denken, um den Wundern das pure Mirakulöse und eben dann für uns auch nicht Begreifliche zu nehmen.

Das Christentum und die Tora

J. M. W.: Fasziniert hat mich in Ihrem Buch der Bezug zu Jeshajahu Leibowitz zum Gottesverständnis, der mich sehr fasziniert, weil er auch ganz auf das Begreifen Gottes durch den Menschen verzichtet und stattdessen auf die Handlungen setzt, die sich aus dem Wissen um Gottes Existenz ergeben: „Es steht geschrieben ‚Ich bin Gott‘, und der Mensch muss ihn erkennen. Das ist alles. Der Glaube besteht nicht darin, dass ich etwas über Gott weiß, sondern darin, dass ich etwas über meine Pflichten gegenüber Gott weiß. Der Glaube, der darauf gegründet ist, dass ich über Gott Bescheid wüsste, ist Götzendienst. […] Gott ohne Tora ist immer ein Götze.“[5]

Th. R.: Die Tora ist das, was Gott von den Götzen unterscheidet. Und in dem Sinne gehört die Tora ganz wesentlich zu Gott, weil sie ihn eben unterscheidet, und damit das erste Gebot ständig präzisierend erfüllt. Für uns Christen ist Jesus eben das, was die Tora für die Juden ist, nämlich das Unterscheidende an Gott. Damit allein schon gehört Jesus zu Gott. Wir als Christen können Gott ohne Jesus, ohne ihn als Definition, nicht erkennen. Gott definiert sich gewissermaßen so über Jesus, oder wir können Gott gar nicht anders als über Jesus, mit Jesus und in Jesus definieren, dass wir ihn als Gott eben darin erkennen.

Aber ich glaube, dass Jesus sehr gut begriffen werden kann, wenn er vor allem als Täter der Tora begriffen wird und als jemand, der seine Art, die Tora zu erfüllen, auch für andere vermittelt und sie einlädt, mit ihm zusammen in dieser Weise die Tora zu erfüllen. Und das ist eben seine Botschaft: Alle Menschen können die Tora erfüllen. Er traute sich zu, die Menschen dazu zu motivieren, dazu zu bewegen, und dann konnte er eben sagen, das Reich Gottes ist nahe. Das Reich Gottes ist nahe: In dem Augenblick, wo alle Menschen die Tora erfüllen, ist das Reich Gottes ja auch da.

J. M. W.: Wenn das Reich Gottes dann nahe ist, wenn die Menschen die Tora erfüllen, wie kann ich mir dann den Gedanken plausibel machen, dass Gott selbst direkt in die Geschehnisse der Welt eingreift, wie also handelt Gott in dieser Welt?

Th. R.: Wenn man Gott als höchstes Sein denkt und ihm von daher Wirkung zuspricht, eben im Begriff der Macht, dann kommt man ja notwendig zum traditionellen Begriff der göttlichen Omnipotenz, der Allmacht. Der ergibt sich zwangsläufig aus diesem Gottesbegriff und ist ja auch wirklich die Spitze der traditionellen Gotteslehre, zu sagen, dass Gott allmächtig ist, also alles das tun kann, was er tun will, ja sogar, das tun kann, was er wollen könnte. Das ist ja ein zutiefst aporetischer Gottesbegriff geworden.

Ein solcher allmächtiger Gott, der irgendwie seine Allmacht auch zeigen müsste, der existiert nicht mehr in unserer Welt, der kann nicht mehr geglaubt werden. Darum denke ich, wir müssen damit anfangen, den Begriff der Macht Gottes ganz anders zu denken, d. h. einmal nicht gewaltförmig, das ist die Mindestforderung, die erfüllt werden muss, aber auch anders als eben Macht überhaupt sonst gedacht wird, nämlich eben als Durchsetzung gegen den Willen anderer, eben als eine Macht, die auch zwingen kann. Indem Gott Gebote geben kann, erweist er sich als allem überlegen.

Denn das Gebot ist, indem es eben etwas fordert, was noch nicht der Fall ist, stärker als alles, was der Fall ist. Die Macht Gottes liegt allein darin, dass er gegenüber allem, was existiert, eben noch etwas anderes sagen kann, nämlich das Gebot sagen kann, und dass dieses Gebot mit einer Verheißung verknüpft ist, nämlich der Verheißung, dass das Gebot erfüllt wird. Und wenn es erfüllt wird, dass eben dann das eintritt, was das Gebot will, nämlich Frieden, Gerechtigkeit, gutes Zusammenleben der Menschen. Und das hat eine eigene Evidenz für sich, wenn man so will auch eine erfahrungsmäßige Evidenz: Was die Weltgeschichte, was die Menschen wirklich bewegt, ist nicht das, was ist, sondern: Hoffnungen, Erwartungen, Verheißungen, die über das Bestehende hinaus gehen, die unabgegoltenen Erwartungen der Geschichte bewegen die Weltgeschichte. So wirkt Gott. Man kann sich Gott ruhig, wenn man will, im menschlichen Sinne als völlig machtlos vorstellen, aber in dem Augenblick, wo er ein Gebot geben kann, ist er mächtiger als alles.

Gott und die Götter

J. M. W.: Für Sie heißt das „fundamentale[s] biblische Thema […] Jahwe und die anderen Götter“[6]. Soweit ich das nachvollziehen kann, orientieren Sie sich dabei am Werk des Schweizer Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945) und an Gedankengängen des rabbinischen und talmudischen Judentums. Prägend sind dabei die philosophisch geprägte Form durch Jeshajahu Leibowitz (1900–1997) und Steven S. Schwarzschild (1924–1989), wobei mich besonders die Gestalt und Gedankenwelt von Leibowitz fasziniert. Wie stellt sich für Sie die entscheidende Frage innerhalb der christlichen Tradition, besonders für die Exegese, angesichts dieses Fundamentalthemas?

Th. R.: Da kann ich mich gut selbst zitieren, aus dem Buch, über das wir gerade sprechen: „Wie ist die Unterscheidung von Gott und Abgott christlich zu vollziehen? Für Christen ist Jesus Christus der Weg zu Gott und zum Leben, zu dem Leben, das aus der Befreiung von den todbringenden Mächten und Götzen erwächst. Da aber jüdisch-biblisch unbedingt gilt, was Leibowitz auf die Formel gebracht hat: „Gott ohne Tora ist immer ein Götze“, stehen wir zuletzt auch hinsichtlich der Unterscheidung im Gottesverständnis vor der Grundfrage aller christlichen Exegese, der Beziehung zwischen Christus und der Tora. […] Wird christlicher Glaube so verstanden und gelebt, dass Christus nach Röm 10,4 das ‚Ziel‘ und die ‚Vollendung‘, die für die Heiden vermittelte ‚Aktualität‘ der Tora bedeutet, dann wird er im Kampf zwischen Gott und Götzen, zwischen Leben und Tod als die Gnade erfahrbar, die Gott mit Jesus über die Völker ausgegossen hat.“[7]

Christentum: Jenseits der „Religion“?

J. M. W.: Große Schwierigkeiten haben Sie damit, das Christentum als eine Religion zu bezeichnen oder zu verstehen. Welche Alternativen schlagen Sie vor, um den Fallstricken zu entgehen, die sie in dieser Begrifflichkeit entdecken:

Th. R.: Eine religionskritische Religion, eine Götzendienst-kritische Religion, eine Religion der Unterscheidungen. Darin liegt auch noch mal ein bedeutsamer Unterschied zur ‚Religion‘, weil Religion normalerweise versucht, eine letzte Einheit der Wirklichkeit zu gewährleisten im Sinne dessen, was Kaufmann Kosmisierungsfunktion nennt, um damit eben auch Kontingenzen des Daseins bewältigen zu können: In aller Gebrochenheit und Vielfalt soll irgendwie etwas Einheitliches sichtbar werden. Das ist eigentlich eine Grundfunktion von Religion, meine ich jedenfalls. Und biblische Religion ist zwar im gleichen Zeichensystem beheimatet, aber sie stellt genau diese Art von Kosmisierung ständig in Frage – damit ist sie eine religionskritische, eine Religion sogar aufhebende Religion. Wenn es eben losgeht mit Abraham, der auszieht aus Vaterstadt und Vaterland und Familie oder mit dem Volk Israel, es ist jeweils der Auszug aus bestehenden Weltdeutungssystemen.

Das ständige Unterwegssein, das nicht Festgelegte, das immer Offene, das ist ein schwacher Begriff dafür. Das gehört ganz wesentlich zum biblischen Religionsbegriff dazu. Der immer in der Gefahr steht, auch biblisch immer in der Gefahr stand, natürlich zur Religion im richtigen klassischen Sinne zu werden. Aber es war nie unwidersprochen. Da gab es die Propheten, die da immer gegen angegangen sind. Darum ist das Christentum auch in seiner Geschichte sehr oft Religion geworden – und konnte es auch werden, weil das auch sicherlich ein biblischer Strang war, den es da aktualisiert hat. Aber es konnte und kann auch heute eben nicht einfach nur in diesem Sinne Religion sein, es muss seine innere Widersprüchlichkeit oder eben ein sich ständiges Selbstaufheben behalten. Wie es im ersten Gebot gesagt ist: Gott nur im Gegensatz zu Gott, zu Göttern, zu dem was mir gerade Gott ist.


Weiterführende Literatur


Anmerkungen

[1]
Ruster (2000).
[2]
Halbfas (2001).
[3]
Baudler (2000).
[4]
Halbfas/Ruster (2001).
[5]
Leibowitz/Shashar (1994) 128.
[6]
Ruster (2000) 166. Dort beginnt Kapitel V: Gottesdienst und Götzendienst.
[7]
Ruster (2000) 186.

Originaladresse:
http://www.bibfor.de/archiv/04.wiegard.htm


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