Biblisches Forum

Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341

Jutta Bickmann, Münster

Der endzeitliche Notfall der Trennung als Glücksfall eines Briefs

Die kommunikative Handlungsstruktur in 1 Thess 2,17–3,10[1]


person.png Informationen zur Autorin gohome.png Ausgabe 1/1998

Vom Notfall der Trennung zum Glücksfall der Briefe

Für heutige ChristInnen und ExegetInnen ist es ein Glücksfall und nicht ein Problem, dass der Apostel Paulus von den Gemeinschaften Christusgläubiger, die er gegründet hatte, getrennt worden ist. Hätte es diese Trennung des wandernden Charismatikers von den neu gewonnenen AnhängerInnen des Glaubens an Jesus, den Christus, nicht gegeben, besäßen wir wohl keine Paulusbriefe. Für uns scheint damit die Trennung nicht mehr zu sein als die glückliche Bedingung, die das Entstehen der Paulusbriefe erst ermöglichte. Und auf diese Weise – durch das Vehikel der Briefe – meinen wir Zugang zur Theologie des Apostels zu haben.

Entsprechend lesen ExegetInnen meist darüber hinweg, wenn in den Briefen des Paulus das Getrenntsein thematisiert wird – es sei denn, es ist Anlass, in kritischem Vergleich mit den Erzählungen der Apostelgeschichte Reisewege historisch zu rekonstruieren. Ansonsten gilt es in der Regel als konventionelles Beiwerk – Brieffloskeln des hellenistisch-römischen Kulturraums eben –, von dem bei der systematischen Rekonstruktion der paulinischen Theologie abzusehen ist.[2]

Der Briefschreiber Paulus jedoch präsentiert den AdressatInnen seiner Briefe seine Theologie nicht als Denksystem – er betreibt sie vielmehr, indem er mit ihnen kommuniziert. In der Kommunikation, das heißt beim Lesen und Verstehen der Briefe kommt Gott zur Sprache, geschieht Theologie. Die Beziehung des Autors zu den AdressatInnen – und damit die Frage von Anwesenheit und Trennung – ist in solcher Theologie nicht Voraussetzung, sondern Bestandteil der Rede von Gott. Die Trennung des Apostels von 'seinen' Gemeinden gefährdet jedoch die Beziehung und damit die Möglichkeit, Gott zur Sprache zu bringen.

Was also für heutige ChristInnen ein Glücksfall ist, war für Paulus und seine AdressatInnen ein Notfall, der ihre Glaubensgemeinschaft fundamental gefährdete. Briefkonventionen, die Beziehung kommunizieren und auf diese Weise aufrecht erhalten,[3] werden so zur Überlebenshilfe für die Gemeinschaft – und ihre Lektüre wird zum Ort der Theologie.

Trennung – ein durchgehendes Thema der Paulusbriefe

Der Notfall der Trennung wird in allen sieben Paulusbriefen thematisiert.[4] Der genuine Ort sind die einleitenden und abschließenden Briefabschnitte, also die Passagen, in denen die Briefbeziehung aufgebaut beziehungsweise die briefliche Kommunikation ans Ende gebracht wird. Dabei umschreiben die Begriffe apousia und parousia zunächst den Sachverhalt, dem meist das vergangene Beisammensein oder das erhoffte Kommen des Paulus und das Wiedersehen kontrastiert werden: 2 Kor 13,2.10; Gal 4,20; Phil 1,26; 2,12. Im Brief an die Christusgläubigen in Rom kann nicht im engeren Sinne von einer Trennung die Rede sein, da der Apostel und die Gemeinde einander bisher unbekannt sind. Stattdessen liegt eine besondere Betonung auf dem Wunsch, „zu euch zu kommen“ und „euch zu sehen“ (Röm 1,10.11; 15,22.24.28): Hier ist der Brief das wichtigste Mittel, eine Beziehung durch Kommunikation anzuknüpfen.[5] Ein Besuch des Paulus in Rom nämlich – so legt der Brief seinen AdressatInnen nahe – setzt eine bestehende Beziehung voraus.

Die Trennung wird in der Regel negativ gewertet. Sie kann sogar als „Verwaistsein“ bezeichnet werden (1 Thess 2,17). Eine Ausnahme bildet hier die Korrespondenz mit der Gemeinde in Korinth, vor allem 2 Kor:[6] Der Brief stellt das aktuelle Verhältnis zwischen Apostel und Gemeinde als problematisch dar, so dass ein Wiedersehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt den endgültigen Bruch heraufbeschwören könnte: 2 Kor 1,23–2,2. Um dieses für beide Seiten äußerst negative Ereignis zu vermeiden, verkehrt der Apostel lieber brieflich mit ihr: 2 Kor 2,3f; 13,1f.10. Die LeserInnen sollen hier die Trennung also positiv verstehen, als Chance, in ein gutes Verhältnis mit Paulus zurückzukehren.[7] Eine ähnliche Wirkung steckt in der Ankündigung des Kommens in 1 Kor 4,19–21.[8] In solchem problematischen Zusammenhang bietet der Brief die Möglichkeit, aus der sonst als schmerzhaft empfundenen räumlichen Distanz heraus die innere Distanz in der Beziehung zu bearbeiten und so durch briefliche Kommunikation die Beziehung zu restituieren.

In der Regel jedoch bewirkt die Trennung „Sehnsucht“;[9] Sehnsucht des Briefschreibers nach den AdressatInnen – Phil 1,8; 2,26; 4,1; Röm 1,11; 15,23; Gal 4,20; 1 Thess  2,17 – und Sehnsucht der AdressatInnen nach dem Apostel – 2 Kor 7,7.11; 1 Thess 3,6. Besonders deutlich tritt das Motiv der Sehnsucht im Brief an die Gemeinde in Philippi hervor (Phil 1,3–8).[10] Die Trennung von Apostel und Gemeinde ist hier verschärft aufgrund der Gefangenschaft des Paulus (Phil 1,7) und der Gefahr für sein Leben (Phil 1,20f). Damit jedoch ist die Beziehung zwischen den Briefpartnern von außen her grundlegend bedroht. Doch auch hier nutzt der Briefschreiber den Text zugunsten des aktuellen Verhältnisses: Seine Sehnsucht, „aufzubrechen und bei Christus zu sein“ (Phil 1,23) konkurriert mit seiner Sehnsucht nach den AdressatInnen, die letztlich überwiegt (Phil 1,24–26). Im Prozess der Lektüre entsteht bei den AdressatInnen dadurch der Wunsch, selbst alles daranzusetzen, dass die Beziehung zum Apostel Bestand hat und sich bewährt (Phil 1,27f; 2,12).

Mehrfach ist in den Briefen von Boten die Rede, die Paulus als Ersatz für seine Anwesenheit schickt.[11] Da sie mit Nachrichten aus den Gemeinden zu Paulus zurückkehren, ersetzen sie und die von den Gemeinden selbst geschickten Boten auch dem Apostel die Anwesenheit der Gemeinde. Die Rekapitulation des Botenerfolgs durch Paulus stützt dabei das aktuelle briefliche Beziehungsangebot: Phil 2,19–30; 1 Thess 2,17–3,10. Im Brief an Philemon, der deutliche Züge eines Empfehlungsschreibens aufweist,[12] verstärkt das Motiv des Anwesenheitsersatzes die Bitte des Paulus: Der Adressat soll den entlaufenen Onesimus als Ersatz für den Apostel und als Ausdruck der Verbundenheit mit diesem wieder aufnehmen (Phlm 17).

Das Motiv des Boten spielt auch in der Auseinandersetzung mit den Glaubenden in Korinth eine Rolle, da hierdurch die aktuelle Beziehung stabilisiert werden soll (1 Kor 4,17–21; 16,10.17f; 2 Kor 7,5–16). In 2 Kor 7,5–16 erinnert Paulus an die erfolgreiche Vermittlung des Titus zwischen Gemeinde und Apostel, durch die in der Vergangenheit die Beziehung wiederhergestellt wurde – den AdressatInnen des Briefes wird so der Wunsch nahe gelegt, dass der aktuelle Brief Ähnliches im Kontext der erneuten Probleme leisten möge.

Der Brief – bedingte Aufhebung der Trennung

Das eigentliche Medium nämlich, das es ermöglicht, trotz der Trennung die Beziehung aufrecht zu erhalten, ist die aktuelle Kommunikation: der jeweils vorliegende Brief.[13] Er ist die Vergegenwärtigung, die parousia, des Apostels bei den AdressatInnen (1 Kor 5,3). Er ist das Beziehungsangebot, das den AdressatInnen im Prozess der Lektüre auf der Basis der bisherigen Beziehung unterbreitet wird (2 Kor 13,10; Gal 6,11). Dabei bietet der Brief die Möglichkeit, mit der Vorstellung der brieflichen Anwesenheit gedanklich zu spielen, da sie letztlich die Trennung nur überwindet, aber nicht beendet (Gal 4,20). Auch ein problematisierender Umgang ist möglich, wie 2 Kor 10,1–11 zeigt.

Im Prozess der Lektüre rezipieren die AdressatInnen das Beziehungsangebot, wobei der Text darauf zielt, dass sie es im je angestrebten Sinn annehmen und verwirklichen. So intendiert der Galaterbrief, dass die AdressatInnen sich im Verlauf der Lektüre von den „falschen Freunden“ ab- und erneut dem Apostel Paulus zuwenden. Gegen Ende des Briefes setzt der Text voraus, dass die gute Beziehung wiederhergestellt ist, so dass nun das freundschaftliche Sehnsuchtsmotiv den Wunsch wecken kann, das gute Verhältnis aufrecht zu erhalten: Gal 4,12–20; 6,11.[14]

Ein Trostbrief an die Gemeinde in Thessalonich

Eine besondere Rolle spielt der konstruktive und für die AdressatInnen hilfreiche Umgang mit der Trennungserfahrung im ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich.[15] Die Trennung von ihrem Gemeindegründer ist nicht die einzige, die die Christusgläubigen dort zu verkraften hatten. Schwerer wiegt die Trennung von Gemeindegliedern, die gestorben sind (1 Thess  4,13), eventuell aufgrund äußerer Gewalteinwirkung auf die Gemeinde (1 Thess 2,14). Und schwer wiegt angesichts dieser Erfahrung die andauernde Trennung von Christus, das Warten auf die parousia tou kuriou.

Der gesamte Brief zielt darauf, die Gemeinde in Bezug auf ihre Trennungserfahrungen zu trösten beziehungsweise die AdressatInnen dazu zu befähigen, dass sie selbst einander trösten (1 Thess  4,18; 5,11). Denn damit das tröstende Handeln des Paulus für die AdressatInnen annehmbar ist und gelingen kann, bedarf es mehr als der im engeren Sinne konsolatorischen Briefpassage 1 Thess 4,13–5,11:[16] Die Beziehung zwischen Briefschreiber und AdressatInnen muss aus Sicht der AdressatInnen stimmig sein – dies stellt der erste Teil des Briefes sicher, der die Beziehung zwischen Apostel und Gemeinde in der Vergangenheit als gelungenes, freundschaftliches Lehr-Lern-Verhältnis nachzeichnet (1 Thess  1,2–2,16). Die Briefpartner müssen sich außerdem über ihr Wirklichkeitsverständnis einig sein, das eine Deutung der Leiderfahrung und einen nachfolgenden sinnvollen Umgang mit ihr erst ermöglicht. Schließlich muss der Briefschreiber mit den AdressatInnen empathisch sein, und diese müssen ihm Kompetenz als Tröster zutrauen.[17] Die Einhaltung dieser letztgenannten Bedingungen führt 1 Thess  2,17–3,10 den AdressatInnen vor Augen.

Widerstand gegen die Trennung – 1 Thess  2,17–3,10 als Erzählung

Auf den ersten Blick hat die Textpassage 1 Thess  2,17–3,10 narrativen Charakter und erzählt von Erlebnissen des Paulus nach seinem Weggang.[18] Der Briefschreiber wertet die räumliche Trennung von der Gemeinde mit dem Ausdruck aporfanisqentej als äußerst bedrohlich und schildert seinen Wunsch, die Trennung aufzuheben. Die ideale familiäre Gemeinschaft, die in 1,2–2,16 geschildert wird, droht umzuschlagen in ein „Verwaistsein“ des Apostels, was in „heftiges Verlangen“ nach einem Wiedersehen mündet (2,17).

Bedrohung und Sehnsucht rufen zunächst einen zweifachen Rückkehrversuch hervor, der jedoch von anderer Seite, vom „Satan“, behindert wird (2,18). Der Apostel kann deshalb das angesteuerte Ziel nicht verwirklichen, „zu euch zu kommen“ und „euer Angesicht zu sehen“, eine Überwindung der räumlichen Distanz ist ihm nicht möglich.

Die briefkonventionelle Beschreibung der Trennung als eine Trennung „dem Angesicht, nicht dem Herzen nach“ (2,17) trägt jedoch den Ansatz einer andersartigen Lösung schon in sich. Deren Verwirklichung schildert der Briefschreiber in einem zweiten Erzählschritt (3,1–2. 5–8): Statt sich selbst im Raum zu bewegen, verschärft er sein eigenes Getrenntsein, indem er „allein in Athen“ zurückbleibt. Das ermöglicht es ihm, den Boten Timotheus zu schicken, der als „Bruder“ des Paulus und „Mitarbeiter Gottes in der Frohbotschaft Christi“ qualifiziert wird: Er ist nun Träger des „Wortes Gottes“, dessen Kommunikation Basis der Paulus- und der Gottesbeziehung der Gemeinde war (2,13). Auftrag des Boten ist es, mit der Gemeinde die Kommunikation über den Glauben fortzuführen, sie „zu stärken und zu ermuntern“ (3,2). Damit ist er die unter den gegebenen Umständen mögliche parousia des Paulus bei der Gemeinde und hält die Kommunikation zwischen den Getrennten aufrecht.

Die weiteren Verse zeigen, dass die Kommunikation wechselseitig verläuft: Der Briefschreiber benennt die Absicht, „euren Glauben zu erfahren“ (3,5); die Rückkehr des Boten löst die Hoffnung ein, dass auch die Gemeinde die Fortführung der Beziehung wünscht. Der Bote stellt nun Paulus gegenüber die parousia der Gemeinde dar, indem er von ihrem Gedenken und ihrer Sehnsucht berichtet (3,6). Damit erreicht die Erzählung ihr Äquilibrium (3,7f), das allerdings immer noch unter dem Vorbehalt eines tatsächlichen Wiedersehens steht. Erst dieses kann alle „Mängel“ der Glaubensgemeinschaft ausgleichen (3,10).

Trennung als endzeitliche Todeserfahrung

Die theologische Bedeutung des Textabschnitts zeigt sich erst auf den zweiten Blick und vor allem aufgrund der drei in die Erzählung eingeschobenen Reflexionspassagen 2,19f; 3,3b–4 und 3,9f.[19] Es geht um mehr als das Getrenntsein freundschaftlich miteinander verbundener Menschen. Der Weggang des Paulus gefährdet vielmehr eine weisheitlich-apokalyptisch ausgerichtete Lehr-Lern-Gemeinschaft, die um das bevorstehende Ende der Zeiten weiß. Er gefährdet eine Gemeinschaft, deren Lerngegenstand das Wissen darum ist, wie die Menschen am Ende der Zeiten vor dem Zorngericht Gottes gerettet werden können. Als rettend wird sich der Glaube an Jesus, den Christus, erweisen, den der lebendige Gott bereits aus den Toten gerettet hat.[20] Dieses von Gott geschenkte Wissen hat Paulus in Thessalonich als Wort Gottes verkündet – und es gilt auch für die aktuelle Briefkommunikation (1,9–10).

Die endzeitliche Rettung der Christusgläubigen wird bei der erwarteten Rückkehr des „Herrn Jesus“ die letzte Bestätigung für den Wissensträger Paulus und seine Botschaft sein. Bei der parousia des Herrn werden die Gemeindemitglieder Gegenstand und Ursache für Freude und Ruhm des Apostels sein – so reflektiert der Brief dessen Sehnsucht in 2,19–20 und macht seinen AdressatInnen durch das Kompliment die Beziehung zu Paulus erstrebenswert.[21]

Die apousia des Apostels gerät damit in ein neues Licht:[22] Sie ist eine Erfahrung in der von Leid und „Bedrängnissen“ gekennzeichneten Endzeit. Der „Satan“, der Widersacher Gottes schlechthin, hinderte den Apostel an der angestrebten Rückkehr (2,18). Er könnte die Glaubenden mittels Leiderfahrungen „wankend machen“ (3,3); er könnte sie „in Versuchung führen“ und so die „Mühe“ des Apostels „zunichte“ machen (3,5).

Die Trennung von Apostel und Gemeinde ist also selbst eine lebensbedrohliche Erfahrung der Endzeit. Sie wird deutbar und verstehbar als endzeitliche „Bedrängnis“: Das verkündete Wort Gottes könnte in Thessalonich nicht mehr kommuniziert werden und dann für die dortigen Christusgläubigen nicht mehr gelten. Ihre Rettung steht auf dem Spiel.

„Bedrängnisse“ jedoch, das entfaltet die zweite Reflexion, gehören zwangsläufig zu den Erfahrungen einer kognitiven Minderheit in der Endzeit. Sie standen bereits am Anfang der Beziehung zwischen Paulus und der Lerngemeinschaft (1,6) und kennzeichneten als Bedrohungen der Gruppe von außen deren weitere Erfahrung (2,14–16; 3,4). Sie wurden den AdressatInnen „vorausgesagt“ und gehören somit zu ihrem Wissensbestand (3,3b.4). Die AdressatInnen dürfen sich also bereits selbst als kundig in der Deutung ihrer Leiderfahrung verstehen.[23]

Widerstand gegen die Todeserfahrung – Paulus als kognitives Modell

Die Todeserfahrung der Trennung braucht deshalb bei allem mit ihr verbundenem Leid nicht als Einwand gegen das von Paulus verkündete rettende Wort Gottes verstanden werden. Sie kann vielmehr, so legt der Brief es seinen AdressatInnen nahe, im Rahmen des Verkündeten gedeutet werden. Die Deutung ermöglicht dann auch eine Bewältigung, denn die Zwangsläufigkeit der Bedrängnisse impliziert nicht ihre passive Hinnahme.[24]

Das Modell dafür bietet das widerständige Verhalten des Apostels: Trotz aller Widrigkeiten nimmt er die Unterbrechung der Kommunikation nicht hin, sondern sucht nach einem alternativen Weg. Indem ein Bote die Kommunikation vermittelt, bleibt das kommunizierte Wissen für die AdressatInnen in Geltung und wird ihr Glaube zur Frohbotschaft für den Apostel (3,6–7). Nicht die Überwindung der räumlichen Trennung steht damit im Vordergrund, sondern die fortlaufende Verständigung der Glaubensgemeinschaft über ihr Glaubenswissen. Die soteriologische Relevanz formuliert Paulus als Abschluss der Erzählung: „so dass wir leben, wenn ihr fest steht im Herrn“ (3,8). Wenn das Glaubenswissen durch Kommunikation in Geltung gehalten wird, dann ist auch unter den Bedingungen der Jetztzeit eschatologische Freude zu erfahren (3,9).[25] Das ermutigt und verpflichtet die AdressatInnen des Briefs.

Briefliche Kommunikation als Widerstand gegen den Tod

Auf der Ebene der aktuellen Briefbeziehung ermöglicht der Apostel seinen AdressatInnen zunächst in zweifacher Weise, seinen Trost anzunehmen.

Zum einen verständigt er sich mit ihnen über das gemeinsame Wirklichkeitsverständnis, das eine analoge Deutung der Leiderfahrung ermöglicht: Trennung – von Paulus, von den Verstorbenen, von Christus – ist eine Todeserfahrung der gegenwärtigen Endzeit, ein Zeichen der noch andauernden Herrschaft der gottwidrigen Mächte. Sie gefährdet die Kommunikationsgemeinschaft, aber sie ist keine Erfahrung, die per se dem von Gott geschenkten und von Paulus verkündeten Wissen widerspräche.

Zum anderen zeigt Paulus seine Empathie mit den Trennungen, die die AdressatInnen erleiden, sowie seine Kompetenz in Deutung und Bewältigung. Er schildert emotional sein Leiden aufgrund der Trennung und des befürchteten Kommunikationsabbruchs wie seine Freude über die fortdauernde Beziehung. Und er entwirft ein Modell des Widerstands: Kommunikation des rettenden Wortes Gottes über räumliche Distanz hinweg hält dieses in Geltung, denn Hoffnung auf Gott bedarf der Versprachlichung und der Verständigung, um ansatzhaft schon jetzt als Freude erfahrbar zu werden.

Dieser letztgenannte Punkt hat jedoch über die Ebene der Darstellung hinaus Konsequenzen für den im Text angelegten Lektüreprozess:[26] In der aktuellen Kommunikation zwischen den BriefpartnerInnen hat der Brief die Rolle inne, die in der geschilderten Vergangenheit Timotheus ausgefüllt hat. Nun vermittelt der Brief die parousia des Apostels bei der Gemeinde. Er ist das Angebot, sich auch angesichts der Leiderfahrungen über die gemeinsame Hoffnung auf Rettung zu verständigen, daraus Kraft zu schöpfen und das Erhoffte so in Geltung zu halten.

Der Brief setzt dabei auf einen in seinem Sinne ‚kompetenten‘ Leser, der die ihm in der Kommunikation zugedachte Rolle akzeptiert und ausfüllt: Er hält mittels des Briefs an der Kommunikation mit Paulus fest und entwickelt so selbst Widerstand gegen die erlittene Todeserfahrung.

Somit enthält 1 Thess  2,17–3,10 nicht einfach briefkonventionelle Elemente, die für eine Rekonstruktion der Theologie des Paulus zu vernachlässigen wären. Vielmehr zeigt eine Analyse der kommunikativen Handlungsstruktur des Textes, dass der Brief in 2,17–3,10 eine kommunikative Dynamik entwickelt, die das Gelingen des Tröstens in 4,13–5,11 wahrscheinlich macht.


Anmerkungen

[1]
Für Karl Löning zum 60. Geburtstag.
[2]
Auch die Gegenstimmen sind inzwischen zahlreich. Vgl. aus jüngerer Zeit z.B. Bosenius, Bärbel (1994): Die Abwesenheit des Apostels als theologisches Programm. Der zweite Korintherbrief als Beispiel für die Brieflichkeit der paulinischen Theologie (TANZ 11), Tübingen / Basel 1994; Klauck, Hans-Josef (1998): Die antike Briefliteratur und das neue Testament (UTB2022), Paderborn u.a. 1998; Schnider, Franz / Stenger, Werner (1987): Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NTTS 11), Leiden u.a. 1987; Stirewalt, Martin L. Jr.(1993): Studies in Ancient Greek Epistolography (SBibSt 27), Atlanta 1993; Stowers, Stanley K. (1986): Letter Writing in Greco-Roman Antiquity (Library of Early Christianity 5), Philadelphia (Pennsylvania) 1986; Taatz, Irene (1991): Frühjüdische Briefe. Die paulinischen Briefe im Rahmen der offiziellen religiösen Briefe des Frühjudentums (NTOA 16), Göttingen 1991; Vouga, Francois (1992): Der Brief als Form der apostolischen Autorität, in: Berger, Klaus / Vouga, Francois / Wolter, Michael (1992): Studien und Texte zur Formgeschichte (TANZ 7), Tübingen / Basel 1992, 7–58; White, John L. (1986): Light from Ancient Letters (Foundations and Facets), Philadelphia 1986.
[3]
Vgl. grundlegend Koskenniemi, Heikki (1956): Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n.Chr., Helsinki 1956; Thraede, Klaus (1970): Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik (Zetemata 48), München 1970.
[4]
Vgl. Funk, Robert (1967): The Apostolic Parousia: Form and Significance, in: Farmer, William R./Moule, Charles F.D./ Niehbur, Richard R. (Hgg.) (1967): Christian History and Interpretation [FS John Knox], Cambridge 1967, 249–268; Mullins, Terence Y. (1973): Visit Talk in New Testament Letters: CBQ 35 (1973) 350–358; Schnider / Stenger (1987) 54–59. 92–102.
[5]
Vgl. Schnider / Stenger (1987) 100–102; Bickmann, Jutta (1993): „Wie ich unablässig euer gedenke“. Ein Versuch zur paulinischen Briefpragmatik am Beispiel von Röm 1,8–15, in: Peters, Tiemo R. / Pröpper, Thomas / Steinkamp, Hermann (Hrsg.) (1993): Erinnern und Erkennen. Denkanstöße aus der Theologie von Johann B. Metz, Düsseldorf 1993, 95–103, hier: 97–100; Klauck (1998) 228f.
[6]
Vgl. Schnider / Stenger (1987) 97f; Bosenius (1994).
[7]
Vgl. Bosenius (1994) 41–43. 115.
[8]
Vgl. Schnider / Stenger (1987) 99f.
[9]
Vgl. Bickmann (1998) 87.
[10]
Vgl. Klauck (1998) 241.
[11]
Vgl. Schnider / Stenger (1987) 95.
[12]
Vgl. Kim, Chan-Hie (1972): Form and Structure of the Familiar Greek Letter of Recommendation (SBL Diss. Ser. 4), Missoula, Mont. 1972, 123–128.
[13]
Vgl. Koskenniemi (1956) 175–178; Funk (1967) 266f; Schnider / Stenger (1987) 95–97; Bickmann (1998) 66–88, v.a. 85–88.
[14]
Vgl. Löning, Karl (1994): Der Galaterbrief und die Anfänge des Christentums in Galatien, in: Schwertheim, Elmar (Hrsg.) (1994): Forschungen in Galatien (Asia Minor Studien 12), Bonn 1994, 131–156, hier: 134.137f.
[15]
Vgl. Bickmann (1998) 89–97 (dort weitere Lit.); Klauck (1998) 291; Smith, Abraham (1995): Comfort One Another. Reconstructing the Rhetoric and Audience of 1 Thessalonians (Literary Currents in Biblical Interpretation), Louisville (Kentucky) 1995, 53f; Malherbe, Abraham J. (1987): Paul and the Thessalonians. The Philosophic Tradition of Pastoral Care, Philadelphia 1987, 73–77; Malbon, Elizabeth Struthers (1983): “No Need to Have Any One Write”?: A Structural Exegesis of 1 Thessalonians, in: Semeia 26 (1983) 57–84, hier: 57.
[16]
Gegen den Ansatz bei Chapa, Juan (1990): Consolatory Patterns? 1 Thess 4,13.18; 5,11, in: Collins, Raymond F. (Hg.) (1990=: The Thessalonian Correspondence (BEThL 87), Leuven 1990, 220–228.
[17]
Vgl. Stowers (1986) 144f; Bickmann (1998) 101.
[18]
Für eine ausführliche Analyse vgl. Bickmann (1998) 225–233. Vgl. auch Marxsen, Willi (1979): Der erste Brief an die Thessalonicher (ZBK.NT 11,1), Zürich 1979, 52–56; Wanamaker, Charles A. (1990): The Epistles to the Thessalonians. A Commentary on the Greek Text (New International Greek Testament Commentary), Grand Rapids 1990, 119–139; Smith (1995) 54. 80–83; Klauck (1998) 276f.
[19]
Vgl. ausführlich Bickmann (1998) 233–246.
[20]
Vgl. Söding, Thomas (1992): Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus. Eine exegetische Studie (SBS 150), Stuttgart 1992, 95f.
[21]
Vgl. Klauck (1998) 276; Wanamaker (1990) 119.
[22]
Vgl. Smith (1995) 72f.
[23]
Vgl. Smith (1995) 55f.
[24]
Vgl. Bickmann (1998) 246–252.
[25]
Vgl. Marxsen (1979) 52.
[26]
Vgl. Bickmann (1998) 250–252. Vgl. auch Marxsen (1979) 55; Wanamaker (1990) 133.

Originaladresse:
http://www.bibfor.de/archiv/98-1.bickmann.htm


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