Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341
Ferdinand Rohrhirsch, Eichstätt
Informationen zum Autor | Benutzte Literatur | Ausgabe 1/1999 |
Der Text basiert auf der Grundlage meines Vortrages am Theologischen Studienjahr der Dormitio (Mount Sion - Jerusalem) vom vergangenen Jahr (1998).
Inhaltlich geht es um das erlaubte oder unerlaubte Zusammenspiel von Textwissenschaft und Archäologie. Der formale Gang des Vortrages lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen. Ich werde in drei Gliederungspunkten (A-C) eine These entfalten und vorstellen. Im vierten Punkt (D) werde ich - mit Gründen - zu zeigen versuchen, dass diese These nicht haltbar ist.
Ein Philosoph darf sich um Trivialitäten kümmern. Es ist seine Aufgabe - wenigstens nach Martin Heidegger - Trivialitäten zu thematisieren. Wenn trivial mit abgedroschen, platt oder selbstverständlich übersetzt wird, dann sagt das noch nichts gegen den in Trivialitäten enthaltenen möglichen wahren Kern. Im Gegenteil, weil niemand mehr an der Richtigkeit trivialer Sätze zweifelt, sind solche trivialen Sätze wenig aufregend und zur wissenschaftlichen Profilierung denkbar ungeeignet.
Nun besteht aber die Aufgabe des Philosophen nicht nur darin, sich um Trivialitäten zu kümmern, sondern sie in nicht-trivialer Weise zu thematisieren. Und das ist ein ganz und gar nicht-triviales Geschäft. Dagegen wird niemand etwas sagen, denn hier tut ja der Philosoph nur das, was er soll, und er stört dabei auch niemanden. Lästig werden Philosophen ja erst dann, wenn sie sich auf fremdes Gebiet wagen, wenn sie nicht in ihrem Elfenbeinturm metaphysischer Unverständlichkeit und Unverbindlichkeit bleiben wollen, sondern sich z.B. anhalten, als Wissenschaftstheoretiker verkleidet, in den einzelnen Fachwissenschaften mitzumischen.
Die Befürchtung kommt sofort: Wissen denn die Philosophen sprich Wissenschaftstheoretiker nicht deshalb alles viel besser, weil sie von den ganz konkreten Gegenständen und Untersuchungsmethoden, die in den jeweiligen Fachwissenschaften untersucht und benutzt werden, so gar keine Ahnung haben?
Etwas sachlicher, von der Seite der Fachwissenschaften aus formuliert:[ 1 ] "Brauchen die Wissenschaften die Wissenschaftstheorie zu ihrem Erfolg? Die Frage ist klar gestellt - ebenso klar fällt die Antwort aus: Nein, sie brauchen sie nicht!" [ 2 ] "Oder ist es nicht vielmehr so, dass Wissenschaft am besten gedeiht, wenn sie sich nicht um Wissenschafts- und Erkenntnistheorie kümmert?"[ 3 ] Denn in der Praxis zeigt sich, dass die konkrete Wissenschaft ihrer Theorie immer schon voraus ist. "Die Methode der Wissenschaft - die wissenschaftliche Vernunft - ist verkörpert in ihrer Praxis und nirgendwo sonst."[ 4 ]
Wird dieses Statement als vorläufige Arbeitshypothese akzeptiert, dass also Fach-Wissenschaften da am besten gedeihen, den größten Erfolg haben, wo sie sich nur auf ihre Praxis stützen - dann darf, ja muss diese Praxis bei Problemen und Fragen auch Antworten und Lösungsvorschläge bereitstellen.
Meine vorläufige Problemfrage, die ich der Fachwissenschaft Archäologie zur Beantwortung vorlege, lautet: Ist es der Archäologie erlaubt, zum Zwecke einer Geltungsabsicherung ihrer Sachverhaltsbehauptungen (Geltungsansprüche in Theorieform) auf Ergebnisse der Textwissenschaft zu rekurrieren?
Es gibt wahrscheinlich nur sehr wenige Wissenschaftler, die dagegen votieren würden, dass Archäologie und Textwissenschaft als zwei eigenständige, methodisch völlig unabhängige Fachwissenschaften mit jeweils unterschiedlichen Forschungsgegenständen und selbständigen Forschungszielen anzusehen sind. Diese Einstellung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Resultat grundlegenden Nachdenkens in Archäologie und Biblischer Archäologie [ 5 ]. Dieser Sicht von der Eigenständigkeit zweier Disziplinen (Archäologie / Textwissenschaft) wird heute nicht mehr widersprochen.
Trotzdem halten viele Archäologen und Bibelwissenschaftler, darunter Volkmar Fritz, William G. Dever, Walter Kleiber, Robert Oberforcher und Christian Frevel, eine Kooperation beider Fachwissenschaften in der Praxis für möglich, für sinnvoll und manchmal auch für notwendig. So sagt z.B. Volkmar Fritz: "Das Nebeneinander von Texten und Denkmälern war immer schon vorgegeben, so dass ein hinreichendes Verständnis der Texte ohne Kenntnis der materiellen Kultur ebenso ausgeschlossen ist, wie eine angemessene Deutung archäologischer Befunde ohne die Kenntnis der sachgemäßen Auslegung der biblischen Schriften."[ 6 ]
Auch Robert Oberforcher bläst ins gleiche Horn, wenn er fordert: man solle "stärker auf die interdisziplinäre Konstellation Wert legen, wonach die (historisch und literarisch arbeitende) Bibelwissenschaft, die Geschichtswissenschaft (Alte Geschichte und Orientalistik) und die Biblische Archäologie in einem unverzichtbaren ständigen Forschungsgespräch stehen. So jedenfalls funktioniert der Forschungsalltag." [ 7 ]
Wie aber der Forschungsalltag tatsächlich funktioniert, soll an einem Beispiel gezeigt werden. Es stammt aus Hartmut Stegemanns Buch: 'Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg u.a. 71998'.
Es geht um die Frage, ob die Höhlen bei Qumran als Wohnquartiere für Bewohner der Anlage interpretiert werden können. Stegemann ist streng dagegen: Seine Argumentation: "Die übliche, aber durch keinerlei archäologische Nachweise gesicherte Annahme, die Qumran-Siedler hätten im wesentlichen in Zelten und Hütten der weiteren Umgebung, besonders im näheren Umfeld der Schriftrollen-Fundhöhlen gehaust, ist (also) [in der 4. Auflage] völlig überflüssig und sachlich unzutreffend."[ 8 ] Verwiesen wird auf Luftbildaufnahmen und deren negativen Befund bezüglich der Feststellung von Pfaden. Nun kann dies zutreffen, aber ist die Benutzungsdauer in Rechnung gestellt worden? Ob ein Trampelpfad zu einer Oase von Tieren und Menschen über Jahrhunderte benutzt wird oder ein Pfad vielleicht nur einige Jahrzehnte in Gebrauch war, muss ebenso berücksichtigt werden wie die vielen Höhlen, die von de Vaux registriert wurden und die keine Texte, aber trotzdem qumrantypische Keramik enthielten. Werden darüber hinaus geologisch vergleichbare Strukturen bewertet? usw. [ 9 ] Es ist klar: Mit diesen Anfragen kann und soll auch nicht das Gegenteil der These Stegemanns behauptet werden. Aber mit dieser Anfrage kann gezeigt werden, dass die Behauptung von Stegemann bis zu dieser Stelle fachwissenschaftlicher, d.h. archäologischer Kritik ausgesetzt werden kann. [ 10 ]
Doch der alles entscheidende Beweis für die Richtigkeit der Behauptung Stegemanns wird durch die Interpretation von Texten geliefert. "Die tatsächlichen Wohnmöglichkeiten für die in Qumran lebenden Essener waren eng begrenzt. [...] Eine ihrer strikt einzuhaltenden Sabbatvorschriften sieht aber vor, dass niemand am Sabbat eine Wegstrecke von mehr als 1000 Ellen - das sind knapp 500 Meter - weit aus 'seiner Stadt' hinausgehen darf (CD X, 21). Auf die Verhältnisse in Qumran angewendet, war 'die Stadt' der hier Lebenden identisch mit dem nach außen hin durch Mauerwerk fest abgegrenzten Bereich der Gebäude der eigentlichen Siedlung. Behausungen in deren Umgebung konnten nicht als integrativer Bestandteil dieser 'Stadt' gelten. Das bedeutet aber, dass kein Mitglied der in Qumran lebenden Essener weiter als knapp 500 Meter von dieser Siedlung entfernt wohnen konnte; sonst hätte er diese Sabbatbestimmung notwendigerweise verletzt, worauf eine hohe Strafe stand. Damit entfallen die allermeisten der 26 von Qumran-Bewohnern im Laufe der Zeit genutzten Felshöhlen im mindestens 200 Meter entfernten Gebirgsabhang als Wohnstätten. [...] Die über den Umkreis von knapp 500 Metern hinausgehende, auch zweifelsfrei nachgewiesene Inanspruchnahme von Höhlen für die verschiedenen Zwecke dürfte - abgesehen von den Schriftrollenverstecken - im wesentlichen auf die gelegentliche Benutzung durch Kleinviehhirten der Essener zurückzuführen sein, die ihre Herden entlang des am ehesten noch begrünten Gebirgsabhangs weideten. Das durfte man am Sabbat sogar doppelt so weit, in einem Bereich bis zu fast 1000 Metern Entfernung von der 'Stadt' (CD XI,5f)."[ 11 ]
Die Tragweite eines Wechsels in der Argumentationsmethodik zeigt sich hier in folgender Konsequenz: Die von Stegemann durchgeführte historisierende Interpretation eines Textes und die daraus gezogenen Schlüsse sind durch archäologische Daten überhaupt nicht mehr in Frage zu stellen. Die These von Stegemann ist völlig immun gegenüber archäologischen Funden. Funde innerhalb der 500-1000 m-Grenze bestätigen die These. Funde außerhalb dieses Umkreises werden als Ausnahmen oder mit Kleinviehhirten erklärt, und damit bestätigen auch diese Funde die These. Die Interpretation der Höhlen von Qumran als Wohnquartiere der Essener aufgrund der historisierenden Interpretierung der Damaskusschrift (von CD XI) kann durch Erfahrung, darunter sind archäologische Daten zu verstehen, nicht mehr widerlegt werden.
Ich verzichte hier auf weitere Beispiele an archäologisierenden Textwissenschaftlern und exegetisierenden Archäologen.[ 12 ]
Zusammengefasst darf man sagen:
Nimmt man die Forschungspraxis als Antwort auf die gestellte Frage: Ist es der Archäologie erlaubt, zum Zwecke einer Geltungsabsicherung ihrer Sachverhaltsbehauptungen auf Ergebnisse der Textwissenschaft zu rekurrieren?, dann ist diese Frage schon lange positiv entschieden. Es gibt zwar einige unverbesserliche Archäologen, die auf einer strikten Trennung von Archäologie und Textwissenschaft bestehen, aber die Praxis zählt, und in der kann nachgewiesen werden, dass es Wissenschaftler gibt, die archäologische Fragen mit Hilfe der Interpretation von Texten beantworten und umgekehrt.
Was praktisch getan wird, muss auch theoretisch legitimiert werden können, zumindest unter wissenschaftlichen Ansprüchen. Der Verweis auf die Praxis als wissenschaftlich adäquate Rechtfertigung reicht dafür nicht aus. Mit dem Verweis auf die Praxis lässt sich schließlich alles begründen und demzufolge nichts. Aus dem Sein folgt (mindestens seit David Hume) eben kein Sollen.
Wenn also wissenschaftlich argumentiert werden soll, dann ist eine Begründung gefordert, die dem wissenschaflichen Selbstverständnis von Archäologie und Bibelwissenschaft entspricht - wenn sie sich als Wissenschaften verstehen wollen.
Um wissenschaftlich die Kooperation von Bibelwissenschaft und Archäologie
zu beurteilen, wird das Problem als Grundfrage formuliert:
Diese lautet:
Können Ergebnisse einer Fachwissenschaft von anderen Fachwissenschaften zur eigenen Geltungsabsicherung benutzt werden, und wenn ja, ist es möglich, die aus einer Konjunktion von Ergebnissen unterschiedlicher Fachwissenschaften bestehenden Geltungsbegründungen fachwissenschaftlich zu überprüfen?
Würde diese Grund-Frage negativ beantwortet, dann hätte das in der Tat (Praxis) gravierende Konsequenzen auf einen Forschungs-Trend, der etwas ungenau mit 'Interdisziplinarität' plakatiert werden kann.[ 13 ] Alle Fachwissenschaften wollen interdisziplinär arbeiten, und - wie bei Fritz und Oberforcher exemplarisch gezeigt - auch Archäologie und Bibelwissenschaft. Wenn es heute noch für irgend etwas Geld gibt, dann für ein interdisziplinäres Forschungsprojekt.
Wie rechtfertigen nun Archäologen und Bibelwissenschaftler trotz ihres Einverständnisses von der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der jeweiligen Fachwissenschaften ihr Kooperationsmodell? Die Bezeichnung 'Kooperationsmodell' wurde von Christian Frevel [ 14 ] übernommen, der das Problem als einer der wenigen überhaupt sieht und systematisch behandelt.
Mit Christian Frevel ist zu fragen, welche Kriterien und methodischen Postulate erfüllt sein müssen, damit eine sachgemäße Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Text möglich ist. "Inwieweit lässt sich der Bibeltext bei der Interpretation archäologischer Daten als bestimmender Faktor hinzuziehen? Und umgekehrt: Wann haben archäologische Daten welche Bedeutung bei der Auslegung der Texte? Die durchgängige Konjunktur dieser Fragestellung ist also verbunden mit der Umorientierung der Biblischen Archäologie; durch die 'Hinwendung' zur Altertumswissenschaft werden die Ziele anders definiert und die Frage nach der Beziehung von literarischer und materieller Hinterlassenschaft stellt sich neu. Die Problematik des Verhältnisses besteht nicht in der grundsätzlichen Verschiedenheit der Aussageweisen beider Disziplinen an sich, sondern darin, dass diese im Schnittbereich argumentative Kraft gewinnen und in ihrer Verschiedenheit denselben Gegenstand (geschichtliche Wirklichkeit) beurteilen. Da beide interpretierbare Daten einbringen, ist methodischer Rückhalt bei der Kombination beider Bereiche um so dringlicher."[ 15 ]
Das Kooperationsmodell sieht nun Frevel dadurch ausgezeichnet, dass in ihm methodische Grundsätze zur Verfügung stehen, mittels derer die Verhältnisbestimmung von Archäologie und Bibelwissenschaft erarbeitet werden kann. "Die Einbindung archäologischer Forschungsergebnisse erfolgt erst nach Einzelanalysen und Interpretationen auf beiden Seiten; sie versucht immer eine Rückbindung an das Gesamtbild, das die Archäologie nach ihren Maßstäben zur Verfügung stellt ... [Weiter sagt er:] Dieses Modell beschreibt den Idealfall einer methodisch abgesicherten fruchtbaren Zusammenarbeit." [ 16 ]
Festgestellt werden kann bei Fritz, Oberforcher u.a., dass eine positive Beziehung von Bibelwissenschaft und Biblischer Archäologie für möglich, sinnvoll und gelegentlich notwendig erachtet wird. In unterschiedlicher Intensität wird von ihnen das 'Kooperationsmodell' als Grundlage vorausgesetzt. Das Kooperationsmodell geht von der Grundannahme aus, dass eine Bezugnahme auf unterschiedliche Fachwissenschaften möglich ist. Das bedeutet, dass die Gültigkeit des Kooperationsmodell davon abhängt, ob die oben formulierte Grundfrage positiv gelöst werden kann.
Völlig zu Recht bemerkt Frevel, dass die Problematik von Biblischer Archäologie und Bibelwissenschaft, also von Archäologie und Textwissenschaft, nicht auf dieses Problempaar beschränkt bleibt. Diese Anfrage taucht im Grunde bei allen 'Kontakten' zwischen Geisteswissenschaften im weitesten Sinne und empirisch/naturwissenschaftlich-historischen Disziplinen auf. "Nicht eine in der Wurzel unversöhnliche Opposition, sondern der unterschiedliche Zugang zur Wirklichkeit schafft Probleme."[ 17 ]
Unwidersprochen kann formuliert werden, dass die von den Textwissenschaften entwickelten Methoden zur Untersuchung von Texten methodisch haltbare Aussagen über den eigenen Objektbereich erlauben. Ob mit exegetischen Methoden eine historisierende Interpretation eines Textes überhaupt sachlich möglich ist, also eine Interpretation, die explizit behauptet, dass der Text von historischen Personen, Ereignissen oder Objekten spricht, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden. In jedem Falle, so wird unterstellt, kann jegliche historisierende oder nicht-historisierende Interpretation bzw. deren Absicherung methodengerecht nur durch Texte ausgeführt werden.
Eine intendierte Geltungsbegründung (sachlicher oder nicht-sachlicher Inanspruchnahmen) ist also in jedem Fall nur durch Texte zu leisten.
Eine Geltungsabsicherung in der Biblischen Archäologie impliziert einen Methodenwechsel, der durch einen Wechsel des Objektbereichs bedingt wird. Datierungen archäologischer Objekte sind Interpretationen. Geltungsbegründungen werden hier durch archäologische Daten geleistet.
D.h.: die eine Datierung wurde aus der Interpretation von Texten gewonnen, die andere aus der Interpretation materieller Objekte. Beide Datierungen sind Interpretationen, die auf der Grundlage völlig unterschiedlicher, jeweilig fachspezifischer Methoden entstanden sind. Soll die Übernahme einer Datierung, die sich archäologischer Provenienz verdankt, eine historisierende Interpretation, d.h. einen historischen Geltungsanspruch, der aus Texten gewonnen wurde, belegen, absichern, beweisen etc., dann stellt sich die Frage: Welche Methode kann nun dafür eingesetzt werden, die Verknüpfung der beiden Stränge zu beurteilen? Denn weder Biblische Archäologie noch Exegese sind fachmethodisch legitimiert, die Geltungsansprüche, die aus der Verknüpfung beider entstehen, zu beurteilen, da die Geltungsbegründungen über das jeweilige einzel-fachwissenschaftliche Methodenarsenal hinausgehen.
Gleichwohl hält Frevel diese Inbeziehungsetzung für prinzipiell überprüfbar. Der Garant ist für ihn ein Drittes, das nicht nur die Entgegensetzung unterschiedlicher Fachwissenschaften, sondern auch die Entgegensetzung Naturwissenschaft-Geisteswissenschaft aufzuheben vermag, nämlich die Wirklichkeit selbst. Nach Frevel entstehen die Bezugsprobleme lediglich durch die unterschiedlichen Zugangsweisen zum selben Gegenstand sprich zur selben Wirklichkeit.
Und das ist klar: Wenn die Prämisse einer gemeinsam unterlegten Wirklichkeit akzeptiert wird, dann kann der kontrollierte Versuch unternommen werden, Ergebnisse einer Fachwissenschaft in eine andere zu übernehmen. Denn dann ist ein alle Fachwissenschaften verbindlicher und verbindender Maßstab, eine entscheidungsfähige Instanz vorhanden, nämlich die eine Wirklichkeit, auf die sich alle Fachwissenschaften beziehen und durch diesen Maßstab (die eine Wirklichkeit) korrigiert werden können.
Die Prämisse der 'einen Wirklichkeit' wird auch von den Wissenschaftlern benutzt, die die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit beider Fachwissenschaften zwar hervorheben, aber trotzdem in der 'Sozialstruktur' des Landes den gemeinsamen Zuordnungspunkt von Exegese und Biblischer Archäologie sehen.
Die Absicht, Ergebnisse von Exegese und Biblischer Archäologie aufgrund einer gemeinsam unterlegten Wirklichkeit aufeinander zu beziehen, scheitert aber aus zwei Gründen:
Die Prämisse der 'einen' Wirklichkeit kann von den Fachwissenschaften nicht vorausgesetzt werden (im Sinne von methodisch verfügbarer Erkenntnis und Ergebniskorrektur), weil Aspekte der Wirklichkeit von den Fachwissenschaften allererst erarbeitet werden müssen. Der Rekurs auf die 'eine' Wirklichkeit ist der Rekurs auf eine Hypothese, die sich fachwissenschaftlicher Prüfbarkeit entzieht.
Gleichzeitig muß aber auch gesagt werden, dass es nicht darum geht, dem wissenschaftstreibenden Subjekt sein immer schon vorausgesetztes Bild der Welt, seine Interpretation der Wirklichkeit abzusprechen. Ohne vorausgesetzte Welt ist Fachwissenschaft nicht möglich. Das vorausgesetzte Bild entzieht sich auch nicht rationaler Prüfbarkeit.
Das hier unterlegte kritisch-rationale Wissenschaftsverständnis[ 18 ] ist in der Lage, die Hypothese von der 'einen' Wirklichkeit mit den gleichen methodischen Maßstäben zu prüfen, die auch dann angewendet werden, wenn, in Karl Poppers Terminologie, 'metaphysische Systeme' überprüft werden. Im Zusammenhang mit der hier geführten Diskussion bedeutet das, dass auf der Stufe der 'Weltbilder' rational-begründbare Theoriepräferenzen möglich sind.
Die Begründung der Erklärung für die Nicht-Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Fachwissenschaften in andere Fachwissenschaften entnehme ich der Philosophie Martin Heideggers.
Heidegger geht zunächst von der trivialen Annahme aus, dass
Wissenschaften nur da funktionieren, wo sie etwas vorfinden, d.h. Seiendes,
Dinge, einen Gegenstandsbereich. "Wissenschaft muß Seiendes vorfinden
können. Es gehört zu ihr, dass sie Seiendes immer schon, und zwar als
irgendwie Offenbares vorliegen hat." [ 19 ] Jetzt kommt aber die entscheidende Bedingung
für
die Existenz und Funktionsfähigkeit einer Wissenschaft: Sie geht nicht an
die Dinge heran, wie sie sind, sondern bestimmt diese schon 'vorher', wie
die Dinge, der Objektbereich zu sein haben, damit sie für die Wissenschaft
geeignet sind. Mit Heideggers Worten: "[E]ine Wissenschaft ist nur
insoweit Wissenschaft, als es ihr gelingt, die Wesensverfassung des
Seienden, das sie zum Thema hat, vorgängig zu umgrenzen."[ 20 ] Das Wort 'vorgängig'
ist das
bestimmende Wort. Wird das akzeptiert, dann bedeutet das, dass das Seiende,
die Dinge, gar nie neutral untersucht und erforscht werden können, so wie
sie an sich selbst sind, sondern so, wie sie durch die jeweilige
Wissenschaft bestimmt werden. Wichtig: Dabei handelt es sich nicht um
anderes Seiendes das jeweilig herbeigezogen wird, "sondern das Sein des
schon offenbaren Seienden wird im vorhinein anders gesehen, genommen und
bestimmt" und zwar so, "dass diese Bestimmung des Seins der
Erfahrung des Seienden voraufgeht." [ 21 ] Dazu kommt noch ein weiteres. Da die
wissenschaftliche Forschung niemals das Ganze des Seienden, die ganze oder
eine Wirklichkeit zum Forschungsobjekt haben kann, muss auch das Ganze des
Seienden in Bereiche und Bezirke eingeteilt werden.
Mit Heideggers Worten:
"Jede Wissenschaft ist als Forschung auf den Entwurf eines umgrenzten
Gegenstandsbezirkes gegründet und deshalb notwendig
Einzelwissenschaft." [ 22 ]
Anmerkungen
[ 1 ]
Vgl. Fischer (1995).
[ 2 ]
Fischer (1995) 249.
[ 3 ]
Fischer (1995) 246.
[ 4 ]
Fischer (1995) 248.
[ 5 ]
Vgl. Rohrhirsch (1996) 36-48.
[ 6 ]
Fritz (1985) 226.
[ 7 ]
Oberforcher (1997) 457.
[ 8 ]
Stegemann (1998) 76.
[ 9 ]
Vgl. aber bes. Höhle 17. Stegemann gibt seine Quelle nicht an.
Möglicherweise bezieht er sich auf die Thesen von J. Patrich.
Vgl. Patrich (1994). Vgl. dazu auch Kapera (1993) 74f.
[ 10 ]
Mittlerweile wurde die archäologische Unmöglichkeit von Trampelpfaden, die
von den Höhlen zur Anlage von Chirbet Qumran führen durch die Funde von
Magen Broshi und Hanan Eshel weiter relativiert. Vgl. dazu: Eshel
(1997) 17.
[ 11 ]
Stegemann (1998) 73.
[ 12 ]
Darunter nun leider auch Magness (1998) und Puech (1998).
[ 13 ]
Zur Differenzierung von 'Interdisziplinarität' und 'Transdisziplinarität'
vgl. Hübentahl (1991). Vgl. dazu Rohrhirsch (1998).
[ 14 ]
Vgl. Frevel(1989). Neben dem Kooperationsmodell diskutiert Frevel
das Affirmationsmodell, das Ancilla-Modell und das Distinktionsmodell.
Vgl. Frevel (1989) 41-44 bzw. Frevel (1999):
"Vier Modelle..."
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[ 15 ]
Frevel (1989) 38. Vgl. dazu Rohrhirsch (1999).
[ 16 ]
Frevel (1989) 42.
[ 17 ]
Frevel (1989) 38 Anmerkung 10.
[ 18 ]
Zur Begründung des hier unterlegten, jedoch nicht problematisierten
Wissenschaftsbegriffes vgl. Rohrhirsch (1996) 3-35.
[ 19 ]
Heidegger (1996) 180.
[ 20 ]
Heidegger(1996) 188.
[ 21 ]
Heidegger(1996) 186.
[ 22 ]
Heidegger (1977) 83.
Originaladresse:
http://www.bibfor.de/archiv/99-1.rohrhirsch.htm
Informationen zum Autor | Benutzte Literatur | Ausgabe 1/1999 |