Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341
Manuel Vogel, Münster
Informationen zum Autor | Den Beitrag kommentieren | Ausgabe 1/1999 |
Im August 1998 fuhr ich auf Einladung von Jan Willem van Henten auf die SNTS-Jahrestagung nach Kopenhagen, um als Gast des Seminars Early Jewish Writings ein Referat über die Vita des Josephus zu halten, jene kleine Schrift, die Josephus als Anhang zu den 20 Bücher umfassenden Antiquitates verfasst hat. Unter den Teilnehmern des Seminars war auch der kanadische Josephus-Spezialist Steve Mason (Toronto), den ich schon vom Münsteraner Josephus-Colloqium 1997 her kannte. Er erzählte mir von seinem Plan, im Dezember nach Galiläa zu reisen, um die Stätten, die Josephus in der Vita beschrieben hat, einmal selber in Augenschein zu nehmen. Er lud mich ein, ihn zu begleiten, und ich zögerte nicht, diese Einladung anzunehmen - wenn ich auch keine Vorstellung vom Sinn und Zweck eines solchen Unternehmens hatte. Sind nicht die zum Teil sehr detaillierten Angaben des Josephus in Verbindung mit zuverlässigem Kartenmaterial ausreichend, um eine Vorstellung von den topographischen und geographischen Bedingungen zu gewinnen, unter denen sich die von Josephus berichteten Ereignisse während seines etwa sechsmonatigen Galilä-Aufenthaltes bis zu seiner Gefangennahme in Jodfat abgespielt haben? Nun, da ich mit einer Fülle von Eindrücken aus Galiläa zurückgekehrt bin, bin ich froh, diese Frage nicht beantworten zu müssen. Mein Umgang mit dem josephischen Text hat sich, des bin ich sicher, entscheidend geändert. Über die stets interessanten und zum Teil höchst wichtigen archäologischen Sachinformationen hinaus habe ich nun das Bild der Landschaft vor Augen, in der die Handlung der Vita sich abgespielt hat.
Sepphoris war unsere erste Station während der viertägigen Erkundung im Golan und in Galiläa. Während der ersten beiden Tage begleitete uns Haggai Amitzur, der an der Bar-Ilan-Universität Land of Israel Studies unterrichtet. Sepphoris war im ersten jüdischen Krieg romtreu und entging deshalb der Zerstörung durch die Truppen Vespasians. Bis in byzantinische Zeit lässt sich eine kontinuierliche Bebauung nachweisen. Zunächst besichtigten wir das von Herodes Antipas erbaute Theater. Erhalten sind außer Räumlichkeiten für die Schauspieler unter der Bühne die Sitzreihen, soweit sie nicht gemauert, sondern aus dem Felsen gehauen waren. Man schätzt die Größe des Theaters auf etwa 4500 Sitzplätze. Ein Schlaglicht zum Thema Judentum und Hellenismus ist der Umstand, dass das Theater in unmittelbarer Nachbarschaft zum jüdischen Viertel lag. Jedes jüdische Wohnhaus hatte eine eigene Mikve und eine Zisterne (zur Gewinnung von Regenwasser zur Verwendung für das rituelle Bad?). Auf der Akropolis wurden Reste einer hasmonäischen Zitadelle gefunden. Diese wurde um das Jahr 62 zerstört, und zwar wahrscheinlich von der jüdischen Bevölkerung selbst als Treuebeweis gegenüber Nero, der der Stadt zuvor den Namen Eirenopolis Neronias gegeben hatte. Bei den Grabungen fand man eine Mikve, die wahrscheinlich den Soldaten der hasmonäischen Anlage als Ritualbad gedient hatte. Die einige Meter breite Treppe und das entsprechende groß bemessene Bassin lassen auf gruppenweise Nutzung des Bades schließen, anders als die privaten Mikvaot der Wohnhäuser des Viertels etwa von der Größe einer Duschwanne. Würde man eine solche Mikve nicht auch in Qumran erwarten, wo die Gruppenidentität ungleich stärker ausgeprägt war? Über das Thema antiker Mikvaot wurde gerade von israelischen Forschern viel geschrieben. Überlegungen zu unserer Frage liegen also sicherlich längst irgendwo gedruckt vor. Es macht aber einen Unterschied, ob man fernab am Schreibtisch auf solche Fragen stößt, oder an den "Originalschauplätzen", die durch die Archäologie wenigstens andeutungsweise und nicht selten in frappierender Detailgenauigkeit wieder zugänglich gemacht wurden. Amitzur erzählte, dass mancher Galiläaspezialist aus Europa oder Amerika nach einigen Publikationen "aus der Ferne" erstmals diese Landschaft bereist und eine ganz neue Sicht der Dinge gewonnen hat.
In der recht gut erhaltenen Zitadelle aus der Kreuzfahrerzeit - als Baumaterial für die Außenmauern diente u.a. ein Sarkophag - ist ein Museum eingerichtet, das einige Funde beherbergt, darunter eine Dionysosstatuette (gefunden im jüdischen Viertel...), und ebenso eine Multimediadarstellung der Geschichte von Sepphoris. Uns fiel auf, wie gut die Ergebnisse archäologischer Grabungen in Israel für den Tourismus aufbereitet sind.
Während das jüdische Viertel aus hellenistisch-römischer Zeit auf dem höchsten Punkt des Hügels liegt, bildet die spätrömisch-byzantinische Bebauung die Unterstadt. Wenngleich für unsere Josephusarbeit nicht von unmittelbarer Bedeutung, beeindruckte uns doch die besondere Anschaulichkeit der Grabungsfunde. Das Pflaster der breiten Einkaufsstraße zeigt die Radspuren der Lastkarren; einige Stellen enthalten in den Pflasterstein geritzte Umrisse von Spielbrettern, ähnlich unserem Mühle-Spiel. Beschäftigung von Kindern, während die Mütter in der Ladengalerie zu beiden Seiten der Straße ihre Einkäufe erledigten. Gegenüber dem Eingang einer byzantinischen Kirche ist eine Menorah in das Pflaster geritzt. Zeichen eines nicht spannungsfreien, aber offenbar doch möglichen Miteinanders von Juden und Christen in derselben Stadt. Zu den Schätzen von Sepphoris zählen die Mosaike der Villa eines reichen Bürgers, die u.a. Szenen aus dem Leben des Dionysos enthalten. Zur Konservierung wurden die Mosaike mittels einer flächendeckenden Klebefolie abgezogen, auf große Holztrommeln gespannt und nach Jerusalem transportiert, wo sie gereinigt und zu festen Platten zementiert wurden, um schließlich wieder an der originalen Fundstelle befestigt zu werden. Die Mosaike stammen aus der Zeit des Jehua ha-Nasi, der als Kompilator der Mischna zu den wichtigsten rabbinischen Gestalten der tannaitischen Epoche zählt. Es ist überliefert, dass er in fortgerücktem Alter aus gesundheitlichen Gründen von Bet-Shean in das klimatisch günstiger gelegene Sepphoris gezogen ist. Seit man ein Mikve-ähnliches Bassin ausgegraben hat, das zum gleichen Gebäude gehörte, schließt man nicht mehr aus, dass das Anwesen von Juden bewohnt wurde. Jedenfalls können den jüdischen Mitglieder des Stadtrates und anderen einflussreichen jüdischen Bürgern die Mosaiken des Hauses, in dem zweifellos wichtige Entscheidungen des kommunalen Lebens fielen, nicht verborgen geblieben sein.
Zum Schluss zeigte uns Amitzur das monumentale Wasserreservoir der Stadt, das etwa einen Kilometer außerhalb der Stadt liegt. Von umliegenden und weiter entfernten Quellen wurde das Wasser in zahlreichen Aquaedukten in die Stadt geleitet und immer dann, wenn der Zufluss größer war als der aktuelle Verbrauch, in das Reservoir umgeleitet. Gegen diesen Wasserspeicher ist die turnhallengroße Zisterne auf Massada geradezu eine Miniatur. Zur ganzjährigen Versorgung von Sepphoris hat man den Kalkfelsen auf einer Länge von 216 Metern in einer Tiefe von ca. 10 Metern ausgehöhlt und damit die Bedingungen für einen immensen Wasservorrat während der trockenen Monate geschaffen. Man stelle sich vor: Springbrunnen und fließendes Wasser in Sepphoris, während die Vegetation der Umgebung unter der drückenden Hitze des Sommers verdorrt. Der Wasserspeicher verengt sich in Richtung der Stadt, bis nur noch eine kleine Öffnung an der Verbindungsstelle zum Aquaedukt übrigbleibt. Den an dieser Öffnung angebrachten Schieber zur Regulierung des Wasserzuflusses aus dem Reservoir wurde bei den aufwendigen Grabungsarbeiten gefunden. Da der Wasserdruck nicht ausreichte, um die Oberstadt mit Wasser zu versorgen, hat man nach römischem Vorbild Schöpfräder eingesetzt, deren Reste ausgegraben wurden. Von Sepphoris fuhren wir Richtung Küste auf eine Anhöhe, die im letzten Tageslicht zur Linken den Blick auf Sepphoris und zur Rechten den Anblick des Mittelmeeres bot. Auch dies war ein wichtiger Eindruck, um sich die Größenverhältnisse des Gebietes klarzumachen, in dem Josephus agiert hat.
Am zweiten Tag führte uns Amitzur zunächst auf einen Hügel oberhalb von Tiberias, auf dem man neben Resten einer byzantinischen Kirche die Mauerfundamente des Herodespalasts ausgegraben hat, dessen Zerstörung Josephus in 66 befohlen hatte (Vita 66). Die Stelle bietet einen hervorragenden Rundblick über den See: Gegenüber liegt Hippos, die nächste Station dieses Tages. Am Fuße des Hügels das moderne Tiberias im Norden und südlich Hamath mit seinen heißen Quellen, die auch heute noch viel Fremdenverkehr anziehen, weshalb das heutige Hamath hauptsächlich aus wuchtigen Hotelbauten besteht. Dazwischen lag das in Vergleich zur heutigen Stadt recht kleine antike Tiberias, dessen südliche Stadtmauer ausgegraben wurde. Das heutige Stadtgebiet war zur Zeit des Josephus hauptsächlich landwirtschaftlich genutzt.
Von Tiberias aus umfuhren wir den See in südlicher Richtung und verließen die Uferstraße am Kibbuz En-Gev. Über geschotterte Serpentinen gelangten wir auf den Hügel, auf dem das antike Hippos lag. Ähnlich wie in Gamla fällt der Hang nach drei Seiten steil ab, so dass die auf dem Bergrücken gelegene Stadt nur an einer Seite mit einer Mauer geschützt werden musste, um damals praktisch uneinnehmbar zu sein. Reste des antiken Stadttors und der Stadtmauer wurden ausgegraben, so dass wir uns, den Hügel von Osten ersteigend, eine gute Vorstellung von der sicheren Lage der Stadt machen konnten. Anders als in Gamla ist der Bergrücken allerdings plateauartig abgeflacht. Als Tiberias gegen Ende des 2. Jh.n. Sitz des jüdischen Patriarchen und bedeutendes rabbinisches Zentrum wurde, entwickelte sich Hippos gewissermaßen zum christlichen Gegenstück. Man hat insgesamt sechs byzantinische Kirchen gefunden. Die Säulen einer dieser Kirchen liegen alle in einer Richtung, was zu der Vermutung Anlass gibt, dass die Kirche bei dem großen Erdbeben des 8. Jh.n. zerstört wurde, das in der gesamten Region große Schäden angerichtet hatte. So wie die Säulen einst durch die Erdstöße umgefallen sind, liegen sie heute noch da.
Die einzige moderne Bebauung ist ein israelischer Bunker aus der Zeit vor dem Sechstagekrieg, vom Kibbuz En-Gev aus in unterirdischen Stollen zugänglich, bis 1967 nordöstlichster israelischer Vorposten. Auf dem nächsten Hügel, einen Steinwurf entfernt, sieht man noch die syrischen Befestigungsanlagen. Das Gelände ist noch weitgehend vermint, so dass man gut daran tut, die mit Stacheldraht flankierten Wege zum Grabungsgelände nicht zu verlassen.
Der Handel zwischen West- und Ostufer florierte trotz der religiösen Gegensätze zu allen Zeiten. Josephus erwähnt in Vita 66 unter den Tiberiensern die "Partei der Schiffer"; vor dem Altar der erwähnten byzantinischen Kirche oberhalb von Tiberias war ein Anker in den Boden eingelassen, offenbar Wahrzeichen der Gemeinde, die vom Schiffsverkehr lebte. Manche mischnisch-talmudische Halachah über den Umgang mit Waren nichtjüdischer Provenienz mag in den Handelsbeziehungen zwischen Tiberias und Hippos ihren ursprünglichen Sitz im Leben haben.
Von Hippos aus bot sich ein ebenso guter Ausblick auf die Umgebung wie vom gegenüberliegenden Hügel des Herodespalats aus. In der Ferne deutlich sichtbar die runde Kuppe des Tabor. Markanter Blickfang von Tiberias aus in nördlicher Richtung ist der Berg Arbel mit seinen Höhlen, die galiläischen Räuberbanden und Aufständischen so oft als Versteck gedient hatten. Josephus hat sie in Erwartung der römischen Truppen befestigt. Auch lässt sich vom Ostufer aus die für die Vita wichtige Entfernung zwischen Tiberias und dem antiken Tarichea gut abschätzen. Man kann sich die Distanzen in Galiläa zum Teil gar nicht kleinräumig genug vorstellen. Unbewusst legt man doch immer wieder europäische oder nordamerikanische Verhältnisse zugrunde, trotz des vorhandenen Kartenmaterials.
Von Hippos fuhren wir über die Golan-Höhenstraße entlang der syrischen Grenze nach Gamla. Gamla wurde erst 1968 entdeckt; zuvor hatte man das auf einem ähnlich geformten Bergrücken erbaute antike Hippos für das im Jahre 68 zerstörte Gamla gehalten. Die Entdeckung der Stadt verdankt sich dem aufmerksamen Blick und dem guten Gedächtnis eines israelischen Soldaten, der zu seiner Bar-Mitzva das Bellum des Josephus geschenkt bekommen und offenbar auch gründlich studiert hatte. Bei einem Erkundungsflug fielen ihm die Übereinstimmungen mit dem von Josephus beschriebenen Gelände auf. Seither wurden erst etwa 5% der Stadt ausgegraben, deren Häuser in Terrassenbauweise auf dem weniger steilen Nordosthang des Hügels errichtet waren. Der Bergrücken selbst ist anders als in Hippos ein schmaler Kamm, dessen steiles und felsiges Südende an die Form eines Kamelhöckers erinnert - woher der Ort seinen Namen hat. In Gamla wurden uns die Ereignisse des Jüdischen Krieges wohl am lebendigsten. Der josephische Bericht über die Eroberung Gamlas durch Vespasian zeigt die eindrücklichsten Übereinstimmungen mit dem Grabungsbefund. Um die Belagerungsmaschinen in größtmögliche Nähe zur Stadtmauer zu bringen, haben die Römer die Talsohle am breiten Nordhang teilweise zugeschüttet.
Die zu Hunderten ausgegrabenen Wurfgeschosse - einige hat man zu Anschauungszwecken liegen gelassen - reichten wegen der Hanglage jedoch kaum hundert Meter hinter die Stadtmauer, so dass sich die Einwohner nur etwas in die hinteren Stadtviertel zurückziehen mussten, um für die Geschosssteine unerreichbar zu sein. Also begannen die Römer mit einer Ramme an drei Stellen (Bellum 4,20) die Mauer zu durchbrechen. An zwei Stellen ist die restliche Mauer so gut erhalten, dass der Durchbruch noch im "Originalzustand" erhalten ist - als sei es gestern gewesen, dass römische Soldaten in die Stadt stürmten. Auch dieser Versuch, die aufständische Stadt zu besiegen, scheiterte jedoch. Die eindringenden Soldaten postierten sich nämlich so zahlreich auf den Dächern der Häuser, dass die (wie wir mit Händen betasten konnten) unzementierten Mauern einstürzten und auf das jeweils darunter gelegene Haus niederbrachen. Dadurch ergab sich ein Dominoeffekt und viele römische Soldaten fanden den Tod unter den Trümmern der einstürzenden Mauern. Unglücklicherweise drängten weitere Soldaten von außen durch die Bresche, so dass es für die bereits in der Stadt Befindlichen kein Entkommen gab. Die Belagerung wurde also fortgesetzt, bis einige Soldaten den an der höchsten Stelle der Mauer errichteten Wachtturm unterhöhlten, zum Einsturz brachten und die Bewohner überrumpelten. Dies ist ein Detail des josephischen Berichts, das von jeher beargwöhnt wurde: Wie kann in einigen wenigen Nachtstunden per Handarbeit das Fundament eines Wachtturms von ca. vier Metern Durchmesser unterhöhlt werden? Sieht man sich die erhaltenen Mauerreste an, so stellt man fest, dass die Mauern ohne Verputz lose aufgemauert worden sind. Wenn es gelang, mit Hebeln einige Fundamentsteine des Turms herauszulösen, konnte durchaus das ganze Bauwerk zum Einsturz gebracht werden (Bellum 4,63-69).
Als der Turm gefallen war, brach unter den Bewohnern eine Panik aus und man flüchtete in Richtung Südhang auf den Kamelhöcker, von dem aus es kein Entkommen geben konnte. Von den Römern immer dichter zusammengedrängt, stürzten Männer, Frauen und Kinder zu Tausenden den steilen Südhang hinunter und fanden den Tod, wenn sie nicht schon vorher durch römische Pfeile gefallen waren. Josephus beziffert 9000 Tote - praktisch die gesamte Bevölkerung von Gamla. Amitzur hatte am Abend zuvor Auszüge des josephischen Berichts in Englisch aus dem Internet ausgedruckt und mitgebracht. Wir lasen die einschlägigen Passagen an Ort und Stelle, nicht wenig beeindruckt davon, wie sich Ort und Text zu einem lebendigen Eindruck der berichteten Ereignisse zusammenschlossen.
Zu den Grabungsfunden, die nicht unmittelbar mit der Rolle Gamlas im Krieg gegen Rom eine Rolle spielen, gehören die Synagoge und eine Produktionsstätte für Olivenöl. Die Synagoge gehört zu den wenigen archäologischen Belegen für die Existenz palästinischer Synagogen im 1. Jh.n. Die Grabungen haben hier wie überall keine Hinweise auf eine räumliche Trennung von Männern und Frauen freigelegt, weder Hinweise auf ein Obergeschoss mit Empore, noch eine Mauer oder sonstige Absperrung, die eine Unterteilung des Synagogenraumes nahelegen würde. Amitzur hielt es jedoch für undenkbar, dass die strikt geregelte Trennung der Geschlechter, die sich sogar auf den Bereich des Privathauses erstreckte, gerade für den Synagogengottesdienst nicht bestanden haben soll. Also Geschlechtertrennung. Aber Beteiligung der Frauen an den profanen und religiösen Dingen synagogaler Veranstaltungen? Hier schweigen die Steine. Einen kleinen Raum, der mit dem Versammlungssaal durch eine Tür verbunden war, hat man als Schulraum identifiziert. Dieser grenzt direkt an die Stadtmauer und war mit Sand und Geröll zugeschüttet worden, um die Mauer auf diese Weise künstlich zu verstärken (Dieser Maßnahme verdanken auch die Fresken der Synagoge von Dura Europos ihren guten Erhaltungszustand, die, ebenfalls an die Stadtmauer angebaut, zu Verteidigungszwecken zugeschüttet worden war).
Amitzur wies uns noch auf eine zweite offenkundig nachträgliche Befestigungsmaßnahme hin: Eine der zur Stadtmauer führenden Straßen endet sackgassenartig an einem Mauerstück, das bei genauem Hinsehen an das angrenzende Mauerstück angemauert, d.h. aber nachträglich aufgeschichtet ist. Die Straße führte ursprünglich zu einem Stadttor, das zu Beginn des Jüdischen Krieges behelfsmäßig geschlossen wurde. Josephus erwähnt in Vita 185 unter den Städten, die er befestigt hat, auch Gamla. Man hat stets angezweifelt, dass Josephus in nur einem halben Jahr über ein Dutzend Städte mit Befestigungsmauern umgeben haben soll. Liest man die Angaben aber vor dem Hintergrund solcher sekundärer Befestigungsarbeiten, dann werden die josephischen Angaben anschaulich und nachvollziehbar. Kein anderer als Josephus mag die Zuschüttung des Synagogennebenraumes und das Zumauern jenes Stadttors in die Wege geleitet haben... An der Stelle des ehemaligen Stadtors findet sich noch eine weitere Besonderheit in Form eines monolithischen Vorsprungs an beiden Seiten der Mauer, dessen Sinn uns ohne Amitzurs Erklärung verborgen geblieben wäre: Es handelt sich um eine künstliche Verengung der Straße, wie sie die Mischna zur Begrenzung eines Eruvs vorschreibt. Die Archäologie ermöglicht aufgrund solcher Funde die Datierung mischnischer Gesetze in eine Zeit, als die Mischna noch nicht in ihrer heutigen Form schriftlich vorlag.
Einige hundert Meter von der Stadtmauer entfernt und etwas hangabwärts hat man eine Ölpresse gefunden. Der Produktionsvorgang lässt sich aufgrund der ausgegrabenen Reste mühelos nachvollziehen: In einem ersten Arbeitsgang wurden die Oliven auf einen runden Basaltsockel von ca. 1,5 m Durchmesser geschüttet und durch ein Steinrad, das durch Körperkraft angetrieben um eine vertikale, auf dem Sockel befestigte Achse lief, zerquetscht (dieselbe Konstruktion wird auch heute noch verwendet). Die Maische wurde dann in einen Korb gegeben, der in eine passgenaue, in den Boden eingelassene Steinöffnung eingesetzt wurde. Ein in den mit Maische gefüllten Korb gepresster Zylinder ließ das Öl in ein unter dem Korb befindliches Sammelbecken fließen. Ein enormer Pressdruck wurde durch Steingewichte von der Größe eines Mehlsacks erreicht, die ihre Kraft durch einen waagerechten Balken, der auf einer Seite in der Mauer eingelassen war, auf den Presszylinder ausübten. In Gamla hat man gleich drei solcher Pressen in einem Raum gefunden, was auf eine Olivenölproduktion industriellen Zuschnitts schließen läßt. Sensationell war jedoch ein weiterer Fund unmittelbar neben den Ölpressen: Man hat nämlich eine Mikve ausgegraben, die in aller Deutlichkeit die religionsgesetzlichen Vorgaben für die Produktion kultisch reinen Olivenöls demonstriert. Die unmittelbare Nachbarschaft von Ölpresse und Mikve ist der archäologische Kommentar zum Bericht der Vita, dass Johanan von Gush-Halab schwunghaften Handel mit kultisch reinem Öl betrieben habe (Vita 74-76): Offenbar war galiläisches Olivenöl bekannt nicht nur für seine Qualität sondern auch für seine kultische Verwendbarkeit. Amitzur nimmt an, dass Gamla Öllieferant für den Jerusalemer Tempel war.
Unter den etwa sechstausend Münzen, die bisher in Gamla ausgegraben wurden, hat man fünf Münzen gefunden, die in den Tagen der Belagerung geprägt wurden. In althebräischen Lettern ist zu lesen: "Zur Erlösung des heiligen Jerusalem". Die national-religiösen Erwartungen, die man auch in der Provinz mit dem Aufstand gegen Rom verband, werden angesichts dieses Fundes schlagartig deutlich: Man verstand sich im fernen Gamla als Teil eines Kampfes, der mit göttlicher Hilfe in der Befreiung der Hauptstadt (und damit auch des Landes) von der Fremdherrschaft der Römer enden würde. Mason und ich fragten uns immer wieder, ob dies wohl auch die Erwartung des Josephus war, als er im Winter 66 nach Galiläa aufbrach und schließlich in Jodfat von den Römern belagert wurde. Hat Josephus das Kommando über Galiläa in der Erwartung übernommen, den Kieg gegen Rom zu gewinnen oder gehörte er, wie er im Bellum und noch deutlicher in der Vita behauptet, zu den wenigen, die, vom Sieg über Cestius Gallus unbeeindruckt, zum Frieden mahnten? Von dieser Frage hängt für das Verständnis der Vita insgesamt viel ab. Amitzur meinte auf unsere Nachfrage hin, Josephus sei wohl eher planlos nach Galiläa gekommen, guten Willens, "irgend etwas" zu tun, um so die Bevölkerung der Fürsorge Jerusalems zu versichern. Diese Hypothese lässt beide Möglichkeiten offen. Aviam, zum selben Thema befragt, äußerte dagegen die Meinung, daß Josephus sehr wohl mit einem Sieg rechnete, und zwar selbst dann noch, als er bereits in Jodfat von den Römern belagert war. Denn hatte bereits die Belagerung Jodfats die Römer wochenlang in Atem gehalten, wie lange musste dann angesichts der übrigen befestigten Städte alein schon die Unterwerfung ganz Galiläas dauern? In dieser Zeit, so mag Josephus kalkuliert haben, kann viel pasieren: Die Parther könnten den Juden zur Hilfe eilen, ein neuer Kaiser vielleicht, der seine außenpolitischen Akzente anders setzt.... Tatsächlich bescherten ja die Wirrnisse des römischen Vierkaiserjahres den Aufständischen einen beträchtlichen Zeitgewinn, der nur eben wegen interner Feindseligkeiten in Jerusalem ungenutzt blieb. War Josephus also für den Krieg oder heimlich dagegen, auf eine Verhandlungslösung hoffend? Mit den Münzen aus Gamla sind wir schon sehr nahe an den Erwartungen und Hoffnungen der Menschen. Ob Josephus diese Hoffnungen teilte? Auch hierzu schweigen die Steine.
Auf die vierstündige Begehung Gamlas folgte ein Besuch im Museum von Qazrin, das die wichtigsten Funde aus Gamla ausstellt, außer jenen Münzen auch Dinge des täglichen Gebrauchs, die dem Betrachter das Leben dieser Menschen und ihr gewaltsames Ende nochmals sehr nahe bringen: Haarspangen, Schmuck, Geschirr... Eine Multimediapräsentation, ähnlich professionell wie die in Massada und Sepphoris, tat ein übriges, die Lebendigkeit der gewonnenen Eindrücke noch zu verstärken, wobei Gamla als nationales Symbol dargestellt wurde, das hinter Massada nicht zurücksteht. "Gamla will never fall again" war der Schlusssatz - auf dem Hintergrund der Rückgabepläne des Golan an Syrien von einiger politischer Brisanz. Amitzur schenkte Mason und mir zum Abschied je eine Videokassette, die die Geschichte Gamlas dokumentiert. Die zwei Tage unter seiner sachkundigen Führung waren für uns außerordentlich wertvoll. Ohne ihn wären uns die wichtigen Einzelheiten zum großen Teil entgangen. Man sieht eben nur, was man weiß.
Am Morgen des dritten Tages waren wir mit Mordechai Aviam von der Israel Antiquities Authority verabredet. Aviam ist der für Galiläa zuständige Archäologe und in dieser Eigenschaft, wie er uns erzählte, etwa 5000 km pro Monat in Galiläa mit dem Geländejeep unterwegs, häufig jenseits der asphaltierten Straßen über Stock und Stein. Keiner kennt wohl die Gegend besser als er. Auch Aviam hatte großzügigerweise zwei volle Tage für uns reserviert. Er führte uns zuerst nach Jodfat. Wie die bisherigen Grabungen ergeben haben, war die Stadt seit der hasmonäischen Eroberung Galiläas jüdisch besiedelt. Die hasmonäische Stadtmauer wurde auf den Fundamenten der älteren paganen Befestigungsanlage errichtet, wie man an einer Grabungsstelle in aller Deutlichkeit sehen kann. Die Angaben des Josephus über Befestigungsarbeiten in Jodfat lassen sich archäologisch insofern verifizieren, als ein Ausbau der hasmonäischen Stadtbefestigung in frührömischer Zeit nachweisbar ist, der in Teilen durchaus auf die von Josephus erwähnten Befestigungsarbeiten in den Monaten vor der Belagerung der Stadt zurückgehen kann. Bei der Feststellung der bis ins Detail gehenden Übereinstimmungen des josephischen Berichts mit den Grabungsergebnissen hat man es sich, wie Aviam erzählte, übrigens nicht leicht gemacht. Statt der älteren Methode, "mit dem aufgeschlagenen Josephus in der Hand" auszugraben, hat man die Texte zunächst ganz außen vor gelassen und erst nach Ende der Grabungen die eigenen Beobachtungen mit den Angaben des Josephus verglichen. Von der Eroberung Jodfats durch die Römer in 68 zeugen zahllose Wurfgeschosse und Pfeilspitzen. Fragmente von Steingefäßen weisen auf die hohe Geltung jüdischer Halachah in Jodfat. Steingefäße waren teurer als Keramik, galten aber als unanfällig für rituelle Verunreinigung. Dazu passt auch, dass keine Reste figürlicher Kunst gefunden wurden, und dass man in Jodfat offenbar keine importierte, d.h. von nichtjüdischer Hand hergestellte Keramik verwendet hat. In einer der auch von Josephus erwähnten Höhlen hat man eine Ölpresse gefunden, baugleich mit denen in Gamla. Einige dieser "Höhlen", meinte Aviam, waren vielleicht Zisternen oder wurden als solche genutzt. Im Spätsommer nach der Olivenernte waren die Zisternen leer und konnten für die Ölproduktion verwendet werden.
Auf einem der angelegten Wege hat man eimerweise Scherben hingeschüttet, die nicht zu ganzen Gefäßen oder größeren Gefäßteilen zusammengesetzt werden konnten. Wir hatten uns bisher die Frage verkniffen, ob es möglich wäre, eine der zahllosen herumliegenden Keramikscherben mitzunehmen. Als wir aber unser Bedauern darüber äußerten, dass die zum Teil handtellergroßen Stücke nun als Bodenbelag den Füßen der Besucher schutzlos preisgegeben waren, meinte Aviam, wir könnten ruhig die eine oder andere Scherbe mitnehmen. So gelangte ich in den Besitz des Henkels eines Keramikgefäßes, das vielleicht bei der Eroberung Jodfats durch die Römer zu Bruch gegangen war... Wie in Gamla, so liegt auch in Jodfat die antike und moderne Geschichte Israels im Bewusstsein der Israelis nahe beieinander. Auf einem planierten Platz innerhalb des Grabungsgeländes soll, wie Aviam erzählte, in naher Zukunft eine Gedenkstätte für die in 1967 umgekommenen Juden errichtet werden.
Von Jodfat aus fuhren wir an einige weitere Orte, die Josephus in der Liste der von ihm befestigten Städte und Dörfer erwähnt (Vita 187f). Kaum einer dieser Orte ist bisher ausgegraben, so dass diese Erkundung vor allem dazu diente, uns ein Bild von der Landschaft zu machen. Aufschlussreich war etwa die Besichtigung von Selame (heute arab. Hirbat as-Sallama): Die umliegenden Hügel sind in der Mehrzahl höher als die Lage des antiken Ortes. Die in der Literatur früher gelegentlich vertretene These, Josephus habe die Orte so ausgewählt, dass ein Sichtkontakt zwischen benachbarten Festungen möglich war, scheitert an den topographischen Gegebenheiten. Zu der Notiz des Josephus in Vita 235, die die Zahl von 204 galiläischen Städten und Dörfern nennt, meinte Aviam, dass Josephus sich hierfür möglicherweise auf eine Liste stützte, die er in Jerusalem zu Beginn seiner Galiläamission für seine eigene Orientierung erhalten hatte. Aviam hat die Angabe des Josephus mit den heute bekannten antiken Orten in Galiläa verglichen und hält sie für zuverlässig.
An Ort und Stelle wurde uns die aus Josephus vertraute Unterscheidung von Ober- und Untergaliläa anschaulich: Während die höchste Erhebung Untergaliläas keine 600 m erreicht, ist das gebirgige Obergaliläa bis zu über 1200 m hoch. Der Übergang entlang der alten Römerstraße von Bethsaida nach Ptolemais, die entlang der Grenze zwischen Unter- und Obergaliläa verläuft, ist recht unvermittelt. Wir fuhren bei Rama von der Staatsstraße 85 ab und sahen zur Linken den 598 m hohen Hügel in der Nähe des untergaliläischen Karmiel und zur Rechen den 1208 Meter aufragenden Har Meron, der bereits zu Obergaliläa gehört. Ein wichtiger und letzter Eindruck dieses Tages war schließlich das untergaliläische Chabolo (Kabul), das an der Grenze zum flachen Umland von Ptolemais (heute Akko) liegt. Josephus berichtet in Vita 213-215 von Gefechten mit dem von Ptolemais kommenden Placidus. Deutlich ist der Übergang vom galiläischen Hügelland, in dem Josephus strategisch im Vorteil war, und der Küstenebene, die der römischen Reiterei bessere Aktionsmöglichkeiten bot, wie Josephus in Vita 166 erwähnt.
Am folgenden Tag, dem letzten Tag unserer Reise, trafen wir uns mit Aviam, der nun in Begleitung seiner Frau und zwei seiner Kinder war, an einer vereinbarten Stelle an der Straße nach Qiryat Shemona. Wir fuhren zunächst nach Baneas und besichtigten das berühmte Paneion. Von dort aus ging es zur Synagoge von BarAm, die zu den am besten erhaltenen palästinischen Synagogen zählt. Die Synagoge wurde, wie Aviam erzählte, in das 2. oder 3. Jh.n. datiert, bis man bei einer weiteren Grabung unter seiner Leitung unter den Bodenplatten Münzen aus dem 4. Jh.n. fand, die dort als Gründungsdepositum platziert worden waren. Danach besichtigten wir eine noch nicht identifizierte Festung aus dem 2. Jh. v. Den Stand der Grabungen hat Aviam jüngst in einem Aufsatz dokumentiert. Am frühen Nachmittag fuhren wir schließlich nach Gus-Halab "to have lunch with John" (Aviam). Nach einem guten Essen und einem herzlichen Abschied von Aviam und seiner Familie machten wir uns auf den Weg nach Tel Aviv, ohne nochmals nach Tiberias zurückzukehren, wo wir während unseres Galiläaaufenthaltes übernachtet hatten. In Tel Aviv gaben wir den Mietwagen zurück und beschlossen unsere gemeinsame Reise in einem Café am Strand. Ich fuhr am späten Abend mit dem Bus zum Flughafen und checkte am Sonntag (20. Dezember) morgens um drei Uhr ein. Meine Scherbe aus Jodfat wurde bei der Kontrolle des Gepäcks nicht beanstandet und hat den Transport nach Münster unversehrt überstanden. Sie liegt nun in meinem Bücherregal zwischen zwei dicken Büchern, die bestimmt nicht umfallen.
[ 1 ] Lektürehinweis im Internet: Donald D. Binder, "Gamla"
[ 2 ] Lektürehinweis im Internet: Sepphoris-Homepage
Originaladresse:
http://www.bibfor.de/archiv/99-1.vogel.htm
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