Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341
Stefan Lücking, Münster
Überlegungen zur biblischen Hermeneutik
Informationen zum Autor | Ausgabe 2/1999 |
Inhalt:
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„Wollen wir uns der Kunst, der Literatur annehmen, so müssen wir sie gegen den Strich lesen, das heißt, wir müssen alle Vorrechte, die damit verbunden sind, ausschalten und unsere eigenen Ansprüche in sie hineinlegen. Um zu uns selbst zu kommen, sagte Heilmann, haben wir uns nicht nur die Kultur, sondern auch die gesamte Forschung neu zu schaffen, indem wir sie in Beziehung stellen zu dem, was uns betrifft.“
Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands, Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1988, 41.
Auch der Exegese müsste es darum gehen, die Texte der Bibel in diesem Sinne gegen den Strich zu lesen. Biblische Texte sind eine Ansammlung toter Buchstaben, solange sie nicht mit unseren eigenen Erfahrungen, unserer Skepsis und unserer Phantasie zu neuem Leben erweckt werden. Sobald die Rezeption biblischer Texte jedoch durch eine Vorstellung von 'Sakralität' dominiert wird, die genau diesen Prozess der Aneignung verstellt, weil sie die Texte aus dem „normalen“, „alltäglichen“, unseren eigenen Erfahrungen zugänglichen Bereich entrückt, ist es kein Wunder, dass diese Texte schlichtweg nicht mehr verstanden werden. Die Schrift offenbart ihre Heiligkeit von selbst – oder gar nicht. Das gleiche gilt von einem Begriff wissenschaftlicher Objektivität, der sich die Abstraktion von den subjektiven Interessen zum Maßstab nimmt und darüber vergisst, wie sehr auch der wissenschaftliche Forschungsprozess von Konventionen und Wahrnehmungsmustern beeinflusst ist.
Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Prozess der Aneignung einen dialektischen Charakter hat. Denn so sehr ich mir den Sinn eines Textes nur aus meiner eigenen Erfahrungswelt heraus erschließen kann, so wenig wird es gelingen, wenn ich mich nicht an den Text verliere, mich nicht von ihm aus meinem Alltag herausreißen lasse. Gerade darin besteht ja auch das Interesse am Lesen. Die Exegese muss deshalb auf die Fremdheit und Andersartigkeit des Textes aufmerksam machen. Sie muss an den Differenzen zu unserem Weltverständnis die Besonderheit der Perspektiven herausarbeiten, die der Text in den Augen der Lesenden auf die Dinge entwirft – und das in einer Form, in der die Begrenztheit beider Horizonte spürbar wird, desjenigen unserer Weltsicht und desjenigen, den der Text eröffnet. Nicht zuletzt darin liegt die raison d'être der Exegese als wissenschaftlicher Disziplin: die Begrenztheit unseres Horizonts aufzuweisen und auf Möglichkeiten des Anders-Seins, Anders-Denkens, Anders-Fühlens aufmerksam zu machen, indem sie die unterdrückten Erfahrungen unserer Vergangenheit bloßlegt.
Der hermeneutische Kreislauf schließt sich darin, dass eine solche Auslegungspraxis nicht ohne einen Erfahrungshintergrund möglich ist, in dem ich als Forscher die Vielfältigkeit, Zerrissenheit und Unerlöstheit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit „hautnah“ erlebe. Ein Text kann mir keine Erfahrungen vermitteln, die ich nicht selbst schon durchlebt habe, aber er kann mir eine Wirklichkeit erschließen, der ich bisher verständnislos gegenüberstand. Eine Exegese, die die Tradition der Unterdrückten lebendig erhalten will, ist nicht ohne die Erfahrung derjenigen möglich, die heute unterdrückt sind. Das hermeneutische Gespür für die Fremdheit des Textes setzt die Sensibilität für das gegenwärtige Unrecht voraus und schärft den Widerstand dagegen.
Diesen Ausgangspunkt müsste die Exegese gerade auch als theologische Disziplin wählen, will sie nicht, dass ihre theologischen Erkenntnisse zu abstrakten und leeren Formeln geraten. Sie müsste ihren „theologischen Interessen“ im Alltäglichsten, scheinbar Unmittelbarsten nachspüren.[1] Aber sie darf dabei nicht stehen bleiben. Kritisch wird sie dadurch, dass sie dieses scheinbar 'Unmittelbare' in seinen vielfältigen gesellschaftlichen Vermittlungen verortet, das alltägliche Leid, das nach Erlösung schreit, zurückführt auf die in unserer Sprache, unserer Körpererfahrung internalisierten Herrschaftsbeziehungen. Sie darf sich nicht davor scheuen, am Ende mit leeren Händen dazustehen, ohne theologische Gewissheit im Gepäck. Denn der Glaube an Gott lässt sich nicht durch theoretische Hilfskonstruktionen am Leben erhalten, sondern erweist sich in einer Glaubenspraxis, die trotz aller fehlenden Gewissheit daran festhält, dass die Macht des Faktischen nicht das letzte Wort behält.
Im Folgenden will ich versuchen, diese kurzen Überlegungen zu vertiefen, an wissenschaftliche Diskussionen anzuschließen und wenn möglich in Bezug auf die exegetische Forschungspraxis zu konkretisieren.
In meiner Studie zu Mk 14,1–11[2] habe ich die Komposition des Evangeliums als einen mimetischen Prozess der Welterschließung untersucht. Genauso gut lässt sich aber der Rezeptionsprozess, das Verstehen des Textes, als eine Form der μίμησις begreifen. In Isers rezeptionsästhetischer Analyse moderner Romane erscheint der „Akt des Lesens“ als eine kreative Tätigkeit, durch die aus der Struktur des Textes erst sein „Sinn“ geschaffen wird.[3] Aber so sehr ich die Welt des Romans durch meine Phantasie selbst entwerfe und mit meinen eigenen Erfahrungen in Verbindung bringe, setzt der Prozess der Lektüre doch zugleich das intuitive, unreflektierte Befolgen sprachlicher und ästhetischer Regeln voraus. Meine Phantasie wird gerade dadurch in Gang gesetzt, dass ich mich am Text verliere und auf die 'Tricks' hereinfalle, mit denen der Text Spannung erzeugt – und die ich doch eigentlich längst 'durchschaut' habe.[4]
Auch der Verständigungsprozess in der unmittelbaren Gesprächssituation ist ein mimetischer Prozess, vielleicht sogar in noch reinerer Form, insofern Gestik, Tonlage, Betonung, kurz: die ganze Körperlichkeit der Sprache einbezogen sind. Ich fühle mich durch mein Gegenüber unmittelbar angesprochen, und doch ist mein Verstehen abhängig von meiner Aufmerksamkeit, meinen Selektionsleistungen, meinem Vorverständnis und meinen Erwartungen – wie sehr, das wird erst deutlich, wenn die Verständigung misslingt. Sie gelingt nur insofern, als meine rezeptive Mimesis intuitiv den gleichen Regeln folgt wie die produktive Mimesis meines Gegenübers. Das gilt grundsätzlich auch für geschriebene Texte. Nur insofern Autor und Rezipienten die gleichen sprachlichen Regeln und lebensweltlichen Hintergrundüberzeugungen teilen, kann der Verständigungsprozess gelingen. Freilich wird diese Bedingung in den wenigsten Fällen erfüllt sein. Dass die Texte dennoch einen Sinn ergeben, ist ein Effekt ihrer Offenheit. Die „Intention“ des Autors herauszubekommen, ist unter solchen Voraussetzungen allerdings ein höchst hypothetisches, wenn nicht gar müßiges Unterfangen.
Auf diesem Aspekt des Verstehens beruht auch Wittgensteins Bemerkung: „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“[5] Der Verständigungsprozess setzt nicht irgendeine abstrakte gemeinsame Erfahrung voraus, sondern ist in einen Komplex von „Praktiken“, Gewohnheiten, Institutionen eingebunden, ist das Spielen eines Sprachspiels. Das Gelingen dieses Spieles setzt die illusio, die unhinterfragte Geltung seiner Regeln und mit ihm verbundenen Gewohnheiten voraus. Die wissenschaftliche Analyse setzt diese illusio jedoch außer Kraft, um das in der unmittelbaren Verständigung 'Selbstverständliche' in Frage zu stellen und seine Geltungsbedingungen zu analysieren.
In der unhinterfragten Geltung der Regeln von Sprachspielen liegt aber auch der Ursprung des hermeneutischen Problems. Es gäbe keine Verständigungsprobleme, würde der Prozess, in dem wir zum Sprechen „abgerichtet“ werden, so reibungslos verlaufen, dass alle realen oder potentiellen Gesprächspartner tatsächlich den gleichen Regeln folgten. Aber schon der Prozess des Spracherwerbs, darauf hat George Herbert Mead in seiner Sprach- und Sozialisationstheorie aufmerksam gemacht,[6] ist eine kreative Leistung. Auch das Kind, dass erst zu sprechen lernt, ist schon Individuum in dem Sinne, dass es eigene Selektionsleistungen erbringt und den eigenen spontanen Impulsen folgt. Und es beginnt schon früh mit den Regeln, die es noch kaum begriffen hat, zu spielen. Mead erläutert das am kindlichen Rollenspiel, bei dem das Kind die Sprachspiele der alltäglichen Kommunikation durchspielt, indem es in sich selbst die Reaktionen hervorruft, die es aus dem Alltag kennt. Aber, so Walter Benjamin, „das Kind spielt nicht nur Kaufmann oder Lehrer, sondern auch Windmühle oder Eisenbahn.“[7]
So sehr der Verständigungsprozess und der Spracherwerb auf der Identität sprachlicher Bedeutungen basieren, so wäre doch der ganze Komplex sprachlicher Regeln bei den unterschiedlichen Individuen nur dann völlig identisch, wenn diese über die gleiche die primären Selektionsleistungen steuernde physiologische Grundlage und die gleichen prägenden Erfahrungen verfügten. Beides ist nicht der Fall: Bezüglich der physiologischen Beschaffenheit gibt es zumindest den Unterschied der Geschlechter,[8] und durch die Kontingenz der Ereignisse durchlebt jedes Individuum seine eigene Geschichte.
Die illusio reibungsloser Verständigung wird erst dann durchbrochen, wenn es zu offensichtlichen Missverständnissen kommt und der mimetische Prozess des Verstehens auf Widerstände stößt. In der Möglichkeit des Missverständnisses liegt also paradoxerweise unsere Freiheit begründet, indem das Missverständnis die unmittelbare Befolgung sprachlicher Regeln unterbricht und zur Reflexion ihrer Geltung zwingt. Das setzt jedoch voraus, dass ich ein vitales Interesse an der Verständigung habe und das Gespräch nicht einfach abbreche, weil ich das Scheitern der Verständigung einfach der Unfähigkeit meines Gesprächspartners zuschiebe. Ein reflexives Verhältnis zu den Regeln der Sprache gewinne ich erst, wenn ich mich gemeinsam mit meinem Gesprächspartner um eine Klärung des Missverständnisses bemühe.
Bei der Lektüre eines geschriebenen Textes fehlt ein aktiver Gegenpart. Trotzdem ist der Text nicht für jedes Verständnis offen; nur ist seine Widerständigkeit subtiler. Deshalb ist die Versuchung auch größer, die Kommunikation einfach abzubrechen, indem man z.B. den Text für „verderbt“ erklärt oder das, was man nicht versteht, der Inkompetenz des Autors zuschiebt. Die Zeiten fröhlichen Konjizierens[9] sind zwar vorbei, aber die Skepsis gegenüber der Sprachkompetenz der biblischen Autoren ist in der Regel immer noch größer als die gegenüber der eigenen.
„Übergang vom Wissen zum Verstehen und zum Fühlen, und umgekehrt vom Fühlen zum Verstehen und zum Wissen“, so ist ein Abschnitt im elften Gefängnisheft Antonio Gramscis überschrieben.[10] Wenn etwas von dem alten Leninisten Gramsci heute noch zu lernen ist, dann ist es die Dialektik der Erkenntnisformen, die er unter dieser Überschrift entwickelt. Sie macht darauf aufmerksam, dass wissenschaftliche Erkenntnis auf Mimesis angewiesen bleibt und dass dieses mimetische Korrektiv nicht in der Abgeschiedenheit der σχολή zu erhalten ist, sondern nur, indem die Philologie „lebendig“ wird.
Das theoretische Wissen bleibt leer und abstrakt, solange es nicht mit praktischer Erfahrung gefüllt ist. Die praktische Erfahrung aber, das „Fühlen“, ist blind und gerade in ihrer Unmittelbarkeit von gesellschaftlichen Vorurteilen und Wahrnehmungsmustern geprägt. Zwischen beiden muss das Verstehen vermitteln, damit aus dem pedantischen Wissen und dem dumpfen Gefühl kritische Erkenntnis werden kann. Gramsci macht jedoch darauf aufmerksam, dass diese drei Momente des Erkenntnisprozesses durch die gesellschaftliche Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit auf verschiedene soziale Klassen ausdifferenziert sind. Dass das akademische Wissen abstrakt wird, hat seinen Grund auch darin, dass die Intellektuellen in einem Bereich agieren, der von den gesellschaftlichen Antagonismen scheinbar abgehoben ist. Tatsächlich aber verdanken sie ihre Position der sozialen Ungleichheit, die ihnen die Muße zum Studium erst ermöglicht und den anderen versagt.
Pierre Bourdieu geht in seiner „Kritik der theoretischen Vernunft“ von einem ähnlichen Verständnis theoretischer Erkenntnis aus.[11] Die in der theoretischen Reflexion gewonnene επιστήμη setzt die praktische εποχή, den Bruch mit der illusionären Erfahrung, der δόξα der im Handeln Befangenen voraus, der zugleich auf der gesellschaftlichen Trennung von denjenigen beruht, die sich die Muße zur kritischen Reflexion nicht leisten können. Wenn die theoretische Reflexion daher zwar die Distanz zu der Praxis voraussetzt, die sie reflektiert, so ist sie doch selbst auch eine Form gesellschaftlicher Praxis, nur nicht derjenigen, über die sie reflektiert. Die Praxis der theoretischen Reflexion muss in einer zweiten εποχή selbst zum Gegenstand kritischer Reflexion gemacht werden, sonst wird das theoretische Wissen durch die in der theoretischen Haltung implizierten Vorurteile und Wahrnehmungsmuster verzerrt.
Die Kritik von Gramsci setzt jedoch noch etwas anders an. Insofern die theoretische Haltung, das „interesselose Betrachten“, eine Form wirklichkeitserschließender Praxis ist, setzt es die gleiche mimetische, imaginäre Kraft voraus, die es durch die Methodik des Vorgehens gerade disziplinieren will. Es reicht nicht, in einer zweiten Stufe der Abstraktion den Entstehungszusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnis zu reflektieren; der Wissenschaftler muss vielmehr die selbstgewählte Distanz zur Praxis wieder überwinden, damit seine kritische Haltung nicht bloß abstrakt bzw. „pedantisch“ bleibt. Die Fallstricke einer solchen Überwindung der theoretischen Distanz, und damit auch der gesellschaftlichen, die sie bedingt, erläutert Gramsci in seiner Kritik an Bucharin, dessen „Gemeinverständliches Lehrbuch des historischen Materialismus“ er als Beispiel einer falschen Anbiederung an den Alltagsverstand begreift. Um seine Alternative zu erläutern, greift er auf die Unterscheidung von Philologie und Philosophie zurück, die er in einem Sinn verwendet, den er offensichtlich von Giambattista Vico übernommen hat. „Philologie“ bedeutet bei Vico nämlich nicht nur die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sprache, sondern mit allem, was vom menschlichen Willen geschaffen worden ist und als historische Gewissheit („certum“) angesehen werden kann: die Sprachen, Sitten, Rechtsordnungen, Kulte und Taten der Völker in ihrer Geschichte.[12] Die „Philosophie“ dagegen fragt kritisch nach der inneren Kohärenz und logischen Konsistenz dieser historischen Sachverhalte. Als die „Wissenschaft vom Wahren“ (la scienza del vero) stellt sie für Vico eine Art Geschichtstheorie dar, während die „Philologie“ sich als die co-scienza del certo damit befasst, die historische Besonderheit der Völker und Epochen hermeneutisch zu erfassen.
In dieser Unterscheidung kehrt die aristotelische Unterscheidung zwischen Dialektik, der Logik des Notwendigen, und Rhetorik, dem Sinn für das Wahrscheinliche, wieder, doch ist sie durch Vicos Grundannahme, dass man nur erkennen könne, was man selbst geschaffen habe, gebrochen. Die Welt der menschlichen Praxis („il mondo civile“) ist kontingent, weil sie im Gegensatz zur natürlichen Welt von den Menschen aus freiem Willen („arbitrio“) geschaffen worden ist. Sie ist deshalb aber auch der Erkenntnis zugänglich, denn die kreative (mimetische) Fähigkeit, aus freiem Entschluss die Sprache, Recht, Sitten und Institutionen zu schaffen, ist allen Menschen gemeinsam. In der Unterscheidung von Philologie und Philosophie wird zudem deutlich, dass dieser sensus comunis, der die Voraussetzung für die Erkenntnis des certum ist, nicht einfach auf das „allgemein Menschliche“ zielt, sondern auf das jeweils historisch Besondere, denn in der Freiheit des Willens ist zugleich die Vielfältigkeit der menschlichen Kulturen begründet. Vico, so Erich Auerbach, „entdeckte nicht sich selbst im Anderen, sondern den Anderen in sich selbst [...] Das ist seine Humanität; etwas weit Tieferes und Gefährlicheres als das, was man zumeist unter diesem Wort versteht.“[13]
Platon musste seine Identität noch mühsam durch konsequente Selbstdisziplin den kaum entzauberten Mächten der äußeren und inneren Natur abringen. Das führt ihn zum Verbot der μίμησις mit dem Nicht-Identischen, Fremden, Anderen.[14] Bei den frühneuzeitlichen Humanisten, bei Erasmus, Thomas More, Rabelais, wird gerade das Gegenteil zum Ideal erhoben. Ihre Beschäftigung mit der Antike verdankt sich einem Interesse daran, aus den engen Grenzen der eigenen Erfahrungswelt herauszukommen und sich in die Vielfalt menschlicher Erfahrungsformen hineinzudenken. Ihre Souveränität erweist sich gerade in der selbstironischen Distanz und der Freiheit, sich am Anderen zu verlieren. Am deutlichsten wird dieser Zug in den grotesken Erzählungen Rabelais'. In Vicos Projekt einer „philologischen“ Rekonstruktion der Ursprünge der Menschheit kehrt er in veränderter Form wieder.
Obgleich Gramsci ein ganz anderes Interesse verfolgt, nicht die Kluft zu den Menschen archaischer Zeiten, sondern diejenigen zur praktischen Erfahrung der subalternen Klassen zu überwinden, hat sein Begriff des senso comune, den er als die „spontane Philosophie“[15] der Massen, die „Folklore der Philosophie“ begreift, dennoch vieles mit dem sensus comunis bei Vico gemein. Gramsci versteht darunter die im Alltagshandeln implizierte Weltanschauung, das Reich der Alltagsplausibilitäten, Selbstverständlichkeiten und intuitiven Gewissheiten, also dessen, was Vico als „certum“ bezeichnet. In jeder sozialen Klasse prägt sich der senso comune in einer besonderen Art, einem besonderen „Konformismus“ aus. Der Unterschied zwischen Alltagsverstand und theoretischem Wissen besteht für Gramsci vor allem darin, dass sich die Aneignung wie die Aktualisierung dieses historischen Wissens im Alltagsverstand „spontan“, also wie mechanisch vollzieht, während die Intellektuellen sich zu ihrem Konformismus bewusst entscheiden. Der Alltagsverstand erscheint (den Intellektuellen) daher als eine inkohärente, lose und zufällige Ansammlung der verschiedensten Begriffe, Weltanschauungen und Religionen.
Um die gesellschaftliche Trennung zu überwinden, müssen die von den Intellektuellen ausgearbeiteten Konzepte nicht nur „allgemeinverständlich“ sein, sondern sie müssen zugleich als Ausdruck der alltäglichen Erfahrung in der Praxis angeeignet werden können. Gramsci überträgt deshalb das pädagogische Konzept einer aktiven Erziehung, die auf einem reziproken Verhältnis von Lehrern und Schülern basiert, auf die ganze Gesellschaft. Er entwickelt das Bild eines „demokratischen Philosophen“[16], der sich nicht mehr allein auf die herrschende Überlieferung der hohen Kultur, auf Künste und Wissenschaft bezieht, sondern in einen regen Austausch zu seiner kulturellen und sozialen Umwelt tritt.[17] Und er erkennt darin zugleich die Unzulänglichkeit seiner eigenen theoretischen Position als Gefangener des Faschismus, denn für die Philosophie, die er entwickeln will, reicht nicht die Gewissheit der eigenen inneren Freiheit, sondern es bedarf der politisch garantierten Rede- und Meinungsfreiheit, welche die Möglichkeit für eine „lebendige Philologie“ („filologia vivente“)[18] schafft, die sich nicht mit der folkloristischen Ansammlung einer fremden Alltagserfahrung begnügt, sondern aus der bewussten Reflexion („co-scienza“) einer gemeinsam geteilten Erfahrung schöpft.
Gramscis Vorstellungen vom „organischen Intellektuellen“ und von der „lebendigen Philologie“ klingen zunächst reichlich sozialromantisch. Aber im Hintergrund steht für Gramsci vor allem die Frage, was die süditalienischen Bauernsöhne, die bei der Niederschlagung der Arbeiteraufstände in Turin eingesetzt worden sind, dazu gebracht hat, die norditalienischen Arbeiter als ihre eigentlichen Feinde anzusehen. Gramsci hätte – als intellektueller Vertreter der Turiner Arbeiterbewegung – also Grund genug gehabt, dieses Verhalten der Dummheit irregeleiteter Bauerntölpel anzurechnen. Aber – seiner eigenen sardischen Herkunft eingedenk – interpretiert er ihr Verhalten nicht als Dummheit, sondern als Missverständnis. Und da ähnliche Formen des Missverstehens in Italien schließlich zum Erfolg des Faschismus geführt haben, setzt er alles daran, die eigenen Vorbehalte, die sich aus seiner geographisch wie sozial entwurzelten Existenz ergeben, zurückzustellen, um den 'gesunden Menschenverstand' des einfachen Volkes zu verstehen. Und als Gefangener des Faschismus war er bei der Aufklärung dieses Missverständnisses genauso auf sich allein gestellt, ohne die Möglichkeit eines direkten Gesprächs, wie ein Exeget gegenüber seinen biblischen Texten.
Exegetinnen und Exegeten trennt jedoch nicht nur die historische Distanz von ihren Texten, sondern die soziale Distanz, die Gramsci so beschäftigt hat, ist in paradoxer Weise damit verschränkt. Ich selbst bin als Exeget in vielfacher Hinsicht sozial privilegiert: Nicht nur, dass ich in einem der reichsten Länder der Erde wohne, in Münster von den sozialen Gegensätzen, wie sie auch in unserem Land existieren, weitgehend verschont bleibe, als Mann trotz aller Erfolge der Frauenbewegung nach wie vor zahlreiche Vorteile habe: Entscheidender ist noch, dass ich als europäischer Intellektueller zugleich Vertreter der 'überlegenen' westlichen Kultur bin, der trotz aller Faszination für fremde, nicht-'westliche' Kulturen von zentralen Werten der christlich-europäischen Kultur nicht abrücken will.
Die biblischen Texte dagegen sind an der Peripherie der antiken Welt entstanden, Dokumente einer Kultur, die aus der Sicht der dominanten hellenistischen Kultur als barbarisch und primitiv erschien. Sie berichten von Menschen, die die hellenistische Hochkultur als historische Individuen nicht einmal wahrgenommen hat, noch dazu aus sozialen Klassen, von denen die 'klassischen' Autoren nur mit Herablassung gesprochen haben. Die biblischen Autoren genießen zwar immerhin das Privileg, die Zeit und das Material zum Schreiben sowie eine – aus der Sicht der Hochkultur zwar 'barbarische', aber doch nicht gering zu schätzende – Bildung genossen zu haben, aber schon durch ihre Sprache und ihren Stil verraten sie sich als intellektuelle Underdogs.
Versetzte ich mich als europäischer Intellektueller in die biblische Zeit, befände ich mich eher in der Situation eines athenischen Intellektuellen, der zwar darüber klagen mag, dass die griechische Kultur nur in der dekadenten Form des Hellenismus dominant geworden ist (so wie europäische Intellektuelle heute gerne über den „Amerikanismus“ klagen), der sich aber gerade deshalb in besonderen Maße als Verteidiger der „wahren“ Kultur empfindet. Gleichzeitig aber bin ich als christlicher Theologe Erbe jener „barbarischen Philosophie“, die sich in den biblischen Texten dokumentiert. Als solcher nehme ich den Hellenismus nicht nur als Wiege unseres modernen wissenschaftlichen Weltverständnisses wahr, sondern auch als Herrschaftsinstrument, das den Zusammenhalt riesiger Imperien dadurch sicherte, dass es städtische Eliten heranbildete, die sich nicht mehr so sehr durch ihre Herkunft unterschieden als durch ihre Bildung und die sich deshalb dem hellenistischen Bildungsprinzip verbunden fühlten und sich gegenüber den Herrschern loyal erwiesen, die ihnen ihren privilegierten (nicht allein durch Erbschaft erworbenen) Status garantierten. Die biblischen Texte zeigen eher die Gegenseite dieses Herrschaftsprinzips: die Unterdrückung autochtoner Kulturen, der Verlust auf Reziprozität angelegter sozialer Bindungen und Verpflichtungen, die Verelendung der Landbevölkerung durch das Steuersystem bzw. die damit verbundene Umstellung der Landwirtschaft von der Subsistenzwirtschaft zur Surplus-Produktion.
In dieser mehrfachen Verschränkung von historischer und sozialer Distanz steckt daher eine Chance: Die Verschränkung und Inkompatibilität der verschiedenen Perspektiven, in die ich durch Bildung, Konfessionszugehörigkeit und historische Erfahrung eingebunden bin, macht es mir leichter, die Einseitigkeit und Relativität dieser Perspektiven zu erkennen. Da ich in keiner Perspektive vollkommen aufgehe, bin ich in der Lage, eine distanzierte, kritische Position gegenüber meiner eigenen Voreingenommenheit zu gewinnen. Als modernem „aufgeklärten“ Intellektuellen erscheinen mir die mythologischen Vorstellungen der Bibel fremd und die dogmatischen Gewissheiten der Theologie verdächtig. Als christlicher Theologe wiederum bin ich in besonderer Weise sensibel für die Dialektik der Aufklärung – dafür, wie sehr unser modernes Weltverständnis mit der Unterdrückung von Mensch und Natur verbunden ist oder wie sehr es seine eigenen Mythen pflegt (wie z.B. den Glauben an die „Selbstheilungskräfte des Marktes“). Aufgrund der historischen Erinnerung an die Schoa dürfte es mir schwer fallen, so leichthin die antijudaistischen Vorurteile zu übernehmen, die die christliche Lektüre der Bibel bis heute bestimmen.
Meine verschiedenen Voreingenommenheiten stellen sich so gegenseitig in Frage. Dass das nicht genügt, zeigt schon allein die nach wie vor virulente Tradition antijudaistischer Bibelauslegung. Zu einer kritischen, auch den eigenen Horizont erweiternden Lektüre der Bibel komme ich erst, wenn ich das Geflecht meiner modernen Perspektiven in Beziehung setze zu den sozialen Perspektiven, die an den biblischen Texten deutlich werden. Indem ich bewusst mit den Analogien und Differenzen spiele, die sich zwischen meiner Situation und derjenigen ergeben, in der die biblischen Texte entstanden sind, gewinne ich nicht nur einen anderen Blick auf den komplexen kulturellen und sozialen Horizont der biblischen Texte, sondern lerne auch meine eigene Wirklichkeit mit anderen Augen sehen.
Originaladresse:
http://www.bibfor.de/archiv/99-2.luecking.htm