Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341
Sonja Strube, Münster
Was feministische von nichtfeministischer Exegese unterscheidet
Einblick in eine Untersuchung der exegetischen Sekundärliteratur zur Erzählung von der syrophönizischen Frau (Mk 7,24–30)
Informationen zur Autorin | Ausgabe 2/1999 |
Inhalt:
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Die Anzahl feministisch-exegetischer Publikationen nimmt stetig zu, die feministische Forschung differenziert sich aus und der Büchermarkt spiegelt ein nach wie vor reges Interesse an Frauengestalten der Bibel. Dies führt zur Frage nach dem "spezifisch Feministischen", nach dem Profil feministischer Exegese, der ich in meiner Dissertation "Wegen dieses Wortes …" nachgegangen bin.
Exemplarisch habe ich 21 feministische und 44 nichtfeministische Auslegungen (Literatur, die im deutschen Sprachraum diskutiert wird) zu Mk 7,24–30 miteinander verglichen.
Die Geschichte von der syrophönizischen Frau, wie sie das Markusevangelium erzählt, habe ich im Wesentlichen aus zwei Gründen ausgewählt: Da sie in der feministischen Theologie sehr beliebt ist, lassen sich zu ihr relativ viele Auslegungen finden, so dass das zahlenmäßige Verhältnis zwischen feministischer und nichtfeministischer Literatur einigermaßen akzeptabel ist. Vor allem aber ist die Perikope selbst nicht leicht verständlich, das von Jesus eingeführte Bildwort verwundert, und so müssen auch ExegetInnen bisweilen mit dem Text ringen. Gerade dieses Ringen mit dem Text, das sich auch noch an den veröffentlichten Kommentaren ablesen lässt, gibt Aufschluss über unausgesprochene Interpretationsvoraussetzungen des jeweiligen Exegeten, der Exegetin.
Systematisch habe ich meinen Anfangsverdacht überprüft – und bestätigt gefunden:
Keine Auslegung eines biblischen Textes ist voraussetzungslos oder in ihrer Wirkung politisch unschuldig. Selbst exegetische Detail-Entscheidungen (etwa text- oder gattungskritische!) werden beeinflusst von den Frauen-, Jesus- oder sonstigen Weltbildern des jeweiligen Auslegers, der Auslegerin. Auch bewusst unpolitisch gehaltene Interpretationen stützen eine bestimmte Position – zumeist die herrschende. Parteilichkeit ist kein Spezifikum feministischer Forschung, sondern jede Forschung ist parteilich – doch nicht jede reflektiert dies.
Um nicht nur den beabsichtigten, sondern auch den unbeabsichtigten Aussagen und Wirkungen einer Auslegung auf die Schliche zu kommen, gilt es, die Texte mit einem "zweifachen Blick"[ 1 ] zu lesen: Zunächst so, wie sie verstanden werden wollen, und ein zweites mal gegen den Strich, mit verdächtigendem Blick.
Im Bereich der Textkritik zu Mk 7,28 beispielsweise diskutieren viele Auslegungen die Frage, ob die Antwort der Frau in V 28 ursprünglich mit ναί eingeleitet wurde oder nicht, und wenn ja, was diese Partikel bedeutet und wie sie zu übersetzen ist. Gute Gründe sprechen für die Annahme, dass die Erzählung ursprünglich ohne ναί auskam. Doch ist dieses kleine Wörtchen in nahezu allen gängigen Übersetzungen äußerst beliebt und wird in seiner Bedeutung gerne großzügig als Zustimmung der Frau zu Jesu Wort V 27 gewertet. Die Einheitsübersetzung legt der Syrophönizierin gar ein "Ja, du hast Recht, Herr!" in den Mund. Dass die Frau Jesus nicht zustimmen, ihm vielleicht sogar geradewegs widersprechen könnte, wird nicht in Betracht gezogen – und durch die Übersetzung sogar undenkbar gemacht (für die, die auf die Übersetzung angewiesen sind).
Besonders deutlich werden Vor-Entscheidungen von Exegeten und Exegetinnen im Bereich semantischer Fragestellungen, etwa bei der Deutung des Gesprächsverlaufs. Ist Jesu Bildwort in V 27 als blanke Ablehnung der Bitte der Frau zu werten oder ist es nur eine "scheinbare Abweisung", vielleicht gar eine "Glaubensprüfung"[ 2 ]? Ist die Antwort der Syrophönizierin V 28 als "inständiges Bitten"[ 3 ] angemessen beschrieben oder ist sie nicht vielmehr ein Widerspruch zu Jesu Auffassung und eine bestechende Gegenargumentation? Wenn Jesus schließlich "wegen dieses Wortes" das Töchterchen der Frau heilt, zielt er dann mit dieser Formulierung auf den Glauben als Grund der Heilung ab, wie viele nichtfeministische Auslegungen behaupten? Oder dürfen wir diese Formulierung vielleicht doch beim Wort nehmen: Hat das einsichtige Argument der Frau Jesus schließlich überzeugt?
Auch die Deutungsversuche der Rede von den Hunden und den Kindern und die Frage, ob κύριε ein Bekenntnis oder eine Höflichkeitsfloskel sei, sogar die diachronen und historischen Überlegungen zu dieser Perikope lassen sich vergleichend analysieren und auf ihre impliziten Denkvoraussetzungen und ihre Implikationen prüfen.
Gelegentlich ist beim Vergleich von feministischen und nichtfeministischen Exegesen schon allein die Statistik aufschlussreich. Bei der Frage nach der Gattungszuordnung etwa entscheiden sich feministische Kommentare fast durchweg für eine dialogbetonte Gattung, die das Gespräch zwischen Jesus und der Syrophönizierin als Zentrum der Perikope auffasst, während viele nichtfeministische Auslegungen zu einer wunderbetonten Gattungszuordnung tendieren, die Jesu heilendes Tun an der Tochter der Syrophönizierin für das Wesentliche dieser Erzählung hält. An dieser Stelle (wie auch schon bei den semantischen Fragestellungen) wird deutlich, dass feministische Auslegungen den Worten der Frau und ihrem Dialog bzw. Disput (!)[ 4 ] mit Jesus bedeutend mehr Gewicht beimessen als nichtfeministische Kommentare. Die Entscheidung für die Gattungsbezeichnung Heilungswunder bzw. Disput ist offensichtlich nicht unabhängig vom Jesus- bzw. Frauenbild der jeweiligen Exegetin, des jeweiligen Exegeten. Gleichzeitig transportiert jede Gattungsbezeichnung auch schon ohne weitere Erklärung eine Vorstellung von dem, was das Wesentliche der Perikope sei, in die Köpfe der LeserInnen der Auslegung. Allein das Wort Heilungswunder macht klar, dass Jesus als Heiler der Held einer so charakterisierten Geschichte sein muss; die Bezeichnung Disput dagegen lässt eine (theologisch-)streitbare Diskussion zwischen Gleichberechtigten erwarten.
Über die Auswertung exegetischer Fragestellungen im engeren Sinne gehen zwei weitere Kapitel der Arbeit hinaus. Der Fokus: Antijudaismus widmet sich dem Aufspüren antijudaistischer Denkschemata in den untersuchten feministischen und nichtfeministischen Auslegungen, und ein letztes Kapitel fragt zusammenfassend danach, was die Interpretationen jeweils als die zentrale Aussage der Erzählung ansehen.
Die Suche nach antijudaistischen Denkmustern in den Interpretationen gehört in den Bereich historischer Überlegungen, da gerade diejenigen Passagen einer Auslegung, die den jüdischen Hintergrund Jesu bzw. der Erzählung beleuchten wollen, anfällig dafür sind, unbemerkt antijudaistische Denkschemata in die Interpretation hinein zu tragen. Aus drei Gründen habe ich dem Thema Antijudaismus einen eigenen Fokus gewidmet: Vor allem ist das Aufzeigen und Bewusstmachen antijudaistischer Denkschemata in theologischen Werken notwendig, um für dieses Problem zu sensibilisieren und so zu seiner Überwindung beizutragen. Darüber hinaus hat das Thema Antijudaismus einen zweifachen Bezug zur feministischen Bibelauslegung. Seit Mitte der '80er Jahre wird das Problem des christlichen Antijudaismus in der feministischen Theologie heftig diskutiert und in zahlreichen Veröffentlichungen bearbeitet. Dem zum Trotz ist ein nach wie vor beliebter Vorwurf einiger nichtfeministischer Exegeten an die Adresse feministischer Exegese der, sie neige in besonderem Maße zu Antijudaismus. Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieser Vorwurf ist nicht haltbar. Antijudaistische Interpretationsmuster finden sich in christlichen Theologien unterschiedlichster Ausrichtung bis heute – auch in feministischen. Doch zeigt sich in den von mir untersuchten Auslegungen, dass feministische Arbeiten insgesamt eine größere Sensibilität für dieses Problem haben und sich bemühen, Antijudaismen abzubauen, während dies für die meisten nichtfeministischen Auslegungen kein Thema ist.
Vergleichend analysieren lässt sich schließlich auch, was unterschiedliche Auslegungen jeweils als wesentliche Glaubens-Botschaft der Erzählung ansehen. Zwar lassen sich die feministischen wie auch die nichtfeministischen Deutungen zu den gleichen sechs Deutungssträngen zusammenfassen, doch setzen sie jeweils verschiedene Schwerpunkte. So betonen feministische, biographische Deutungsansätze beispielsweise nahezu durchgängig Jesu Lernfähigkeit, die sich darin zeige, dass er sich von der Argumentation der Syrophönizierin eines Besseren belehren lasse, während nur drei von 44 nichtfeministischen Auslegungen eine solche Aussage machen. Zahlreiche Interpretationen fassen das Verhalten der Syrophönizierin als vorbildlich und nachahmenswert auf – und lassen sich so dem paränetischen Deutungsstrang zuordnen. Doch sind es nach nichtfeministischer Auffassung fast ausschließlich Glauben und Demut (beide Vokabeln fallen in Mk 7,24–30 nicht!), die die Frau zum Vorbild machen, während feministische Auslegungen eine Vielzahl positiver Charakterisierungen finden und vor allem den Scharfsinn, die kluge und schlagfertige Argumentation, die Geistesgegenwart, den Mut, die Beharrlichkeit, das unkonventionelle und fordernde Verhalten, den "aggressiven Einsatz ihres Intellekts"[ 5 ] loben. – Besonders deutlich zeigen sich hier die unterschiedlichen Frauen- und Jesusbilder, die den verschiedenen Interpretationen zu Grunde liegen.
Um ein wenig anschaulicher zu machen, was einem feministisch geprägten verdächtigenden Blick auffällt und was Feministinnen meinen, wenn sie gängigen Auslegungen verwerfen, sie seien androzentrisch, kommentiere ich im Folgenden (ohne Anspruch auf die Vollständigkeit meiner Überlegungen) Passagen aus einem Markus-Kommentar von Rudolf Schnackenburg.
Zunächst der Text:
"… Die heidnische, aus Syrophönizien stammende Frau zeigt einen ähnlich starken Glauben wie die blutflüssige Frau und lässt sich durch die anfängliche Abweisung durch Jesus nicht beirren. Das bildhafte Wort Jesu will sagen: Er ist zuerst zu den Kindern Israels gesandt und darf die Heiden nicht bevorzugen. Man hat oft darauf hingewiesen, daß sich die Juden als Kinder Gottes betrachten und bisweilen die Heiden verächtlich als "Hunde" bezeichneten, im Orient ein starkes Schimpfwort. Doch dann ist an die wilden Straßenhunde gedacht, während Jesus von den "Hündlein" spricht und damit, wie auch die Frau versteht, die im Haus lebenden Tiere meint. So greift Jesus kein gehässiges Reden auf, sondern prägt selbst wie so oft ein Bild, mit dem er einen Gedanken veranschaulichen will.
Oft findet man die Zufügung von "zuerst" auffällig. Hat nicht erst Markus dieses Wörtchen im Hinblick auf die christliche Mission hinzugesetzt? … Aber das Wörtchen gehört unlöslich zum Satz, wie er dasteht, und die nachfolgende Begründung soll auch nicht schlechthin den Hündlein ihr Futter streitig machen, sondern nur den Vorrang der Kinder unterstreichen. Die Hündlein sollen sich nicht auf Kosten der Kinder sättigen. Das Wort Jesu ist keine totale Ablehnung, sondern nur ein Hinweis, daß er den Segen der Heilszeit zuerst und mit Vorzug Israel bringen soll.
… Die Frau nimmt das von Jesus gebrauchte Bild auf und wendet es schlagfertig zu ihren Gunsten: Auch die Hündlein unter dem Tisch erhalten ein paar Brocken vom Brot der Kinder. "Um dieses Wortes willen" gewährt ihr Jesus die Erfüllung ihrer Bitte und spricht das Wort der Heilung, sogar aus der Ferne. Läßt Jesus sich von der Schlagfertigkeit der Frau überwinden? Nein, er belohnt nur ihr starkes Vertrauen zu ihm, das ähnlich einfältig-schlau und zugleich "zugreifend" war wie das der blutflüssigen Frau. Jesus braucht seine Überzeugung und Absicht gar nicht zu ändern; die Frau hat ihn nur scheinbar "umgestimmt". In Wirklichkeit ließ der Grundsatz, den er aussprach, diese Ausnahme zu, und er konnte nur wünschen, daß der Glaube der Frau stark genug war, diese Möglichkeit zu erkennen und zu ergreifen. Es ist müßig zu fragen, ob er die Frau auf eine Glaubensprobe stellen wollte. Tatsächlich war es das für sie, und sie hat die Prüfung glänzend bestanden.
So wird die Geschichte auch wieder zu einem Glaubensbeispiel. Die Frau geht heim und findet ihr Töchterlein gesund. Den neuen Beweis ihres Glaubens, daß sie dem Wort Jesu vertraut, hebt der Evangelist nicht einmal hervor. Ihm kommt es auf Jesu Verhalten gegenüber dieser Heidin an … Für die heidenchristlichen Leser aber wird jene namenlose Frau, die vertrauensvoll zu Jesus kommt, ihn um Hilfe anfleht, sich nicht beirren läßt und ein demütig-starkes Glaubenswort spricht, doch zu einem Bild und Beispiel für sie selbst. … Ihre Größe lag in der Unerschütterlichkeit ihres Vertrauens, als Jesus sie scheinbar abwies. …"[ 6 ]
Im ersten Abschnitt seiner Auslegung versucht Schnackenburg zu erklären, was es mit dem rätselhaften Bildwort von den Hunden und den Kindern auf sich hat. Dazu greift er auf ein Wissen zurück, das er nicht aus dem Text selbst bezieht, sondern aus dem vermeintlich üblichen jüdischen Sprachgebrauch zur Zeit Jesu. Er geht wie viele seiner Kollegen ganz selbstverständlich davon aus, dass die Juden mit dieser Gegenüberstellung von Hunden und Kindern den Unterschied zwischen sich selbst und den Heiden bezeichnen wollten. – Eine Behauptung, die auf wackeligen Beinen steht (Näheres dazu in Strube, "Wegen dieses Wortes …" s.u.). Doch obwohl Schnackenburg einerseits den vermeintlich üblichen jüdischen Sprachgebrauch zur Erklärung des Bildwortes heranzieht, setzt er andererseits Jesu Wortwahl sofort wieder positiv davon ab: Während er den Juden "gehässiges Reden" unterstellt, wäscht er Jesus von einem solchen Vorwurf rein. Schnackenburg bildet hier also einen Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen Jesu Wort und dem vermeintlichen jüdischen Sprachgebrauch (– eine antijudaistische Denkfigur). Vor allem aber gibt er sich sichtlich Mühe, die Tatsache, dass Jesus die Bitte der Frau zunächst nicht erfüllt, sondern sie statt dessen tadelt, nicht als Ablehnung zu interpretieren. Folgerichtig entscheidet er sich daher auch für die These, dass das "zuerst" in V 27 bereits zum ursprünglichen Text hinzugehörte. Seiner Auffassung nach will der gesamte V 27 keine totale Ablehnung formulieren.
Nun wendet sich Schnackenburg der Frau und ihrer Bedeutung zu. Immerhin wertet er ihre Reaktion auf Jesu Bildwort als schlagfertig und weist auf die Besonderheit hin, dass Jesus schließlich "wegen dieses Wortes" die Heilung ausspricht. Doch sofort wertet er das Wort der Frau in seiner Deutung wieder ab. Wir sollen nur nicht meinen, die Frau habe Jesus etwa kraft ihrer Argumentation überzeugt, ihn gar eines Besseren belehrt. Ohne seine Deutung am biblischen Text belegen zu können, behauptet Schnackenburg, die Frau habe Jesus nur scheinbar umgestimmt, "in Wirklichkeit" habe Jesus seine Meinung gar nicht ändern müssen. – Man fragt sich, warum Schnackenburg die Gedanken Jesu besser kennt als alle Zeitgenossen Jesu.
Die Frau wird von Schnackenburg als "einfältig-schlau" beschrieben, ihre Argumentation als "demütig-starkes Glaubenswort", als "Glauben" und "Vertrauen". Gerade an Wortschöpfungen wie "einfältig-schlau" oder "demütig-stark" und an den anderen kleinen Widersprüchlichkeiten, die sich in dieser Deutung finden, lässt sich erkennen, mit welchen Vor-Entscheidungen Schnackenburg an den Bibeltext herangeht. In sein – und zunächst auch in unser aller – Jesusbild passt die Vorstellung, dass Jesus einen hilfsbedürftigen Menschen abweisen könnte, nicht hinein. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, muss im Text und außerhalb des Textes nach Indizien gesucht werden, die eine andere – mildere, menschenfreundlichere – Deutung ermöglichen. Die Begriffe, die Schnackenburg zur Beschreibung der Frau verwendet, beschränken ihren Intellekt und Scharfsinn (einfältig), negieren ihren Widerspruch (demütig) und behaupten eine Emotionalität, die im Text selbst gar nicht vorkommt (Vertrauensglaube). Damit Jesus auch in dieser Geschichte der Held bleibt, der das Wesentliche sagt und das Wesentliche tut, muss die Argumentation der namenlosen Frau in ihrer inhaltlichen Bedeutung abgewertet werden.
Ich will damit nicht behaupten, dass Schnackenburg dies aus Frauenfeindlichkeit täte. Nein, er stellt die Syrophönizierin sogar gerne als leuchtendes Glaubensvorbild für uns alle vor. Sicherlich empfindet er selbst seine Wortschöpfungen "einfältig-schlau" und "demütig-stark" durchweg als positiv. Dennoch wählt er (wie fast alle seiner Kollegen) aus einer Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten des Wortwechsels zwischen Jesus und der Frau eine aus, die nicht nur Jesus zum alleinigen Helden dieser Geschichte macht, sondern die auch die Frau und ihre Tat abwertet und Klischeevorstellungen von typisch weiblichem Verhalten aufwärmt: Seiner Auffassung zu Folge kann es nicht der Intellekt der Frau sein, der Jesus überzeugt, sondern es müssen Demut und Vertrauen sein – auch wenn der Text davon nicht redet.
Die biblische Geschichte stellt Jesus und die Syrophönizierin in einen Disput verwickelt dar; die beiden sind zunächst nicht einer Meinung. Diese Spannung des Textes verleitet uns als LeserInnen dazu, für eine der beiden Figuren Partei zu ergreifen. Schnackenburg entscheidet sich dafür, für Jesus Partei zu ergreifen und sein Handeln zu erklären und zu rechtfertigen. Er geht davon aus, dass Jesus nicht nur meistens, sondern immer der Lehrer und der Geber ist, dass immer sein Wort die Lehre einer Erzählung bildet und immer seine Tat den Höhepunkt. Dass diese Erzählung sich einer solchen Deutung widersetzt, wird ihm zum Problem und macht seine Auslegung holprig und in sich widersprüchlich.
Auch eine feministische Auslegung möchte ich exemplarisch besprechen:
"… Die Erzählung ist sehr ungewöhnlich: Die Frau hat das letzte Wort, nicht Jesus. Normalerweise in der Evangelientradition stellt jemand (Jünger, Freund, Feind) Jesus eine Frage oder behauptet etwas, und Jesus kontert mit einer sehr forschen Antwort. Hier ist das Schema umgekehrt. Daher hat man versucht zu erklären oder wegzuerklären, warum wohl die Frau das letzte Wort gehabt habe und warum Jesus seinen Entschluß änderte und dem Wunsch der Frau entsprach.
Viele haben angenommen, es sei aufgrund des Glaubens der Frau geschehen. … Aber in der Art, wie Markus das Geschehen berichtet, steht das Element des Glaubens nicht im Vordergrund.
Andere sehen es so, daß Jesus die Tochter geheilt hat, weil die Frau ebenso demütig wie gläubig war. Es ist schwer einzusehen, wie man das aus der Geschichte herauslesen kann, außer auf der Grundlage einer vorgefaßten Meinung über Jesus und die Rolle der Frauen. Wenn ich mich in ähnlicher Weise verhalte – einen Mann aufstöbere, der versucht, sich verborgen zu halten und eine persönliche Vergünstigung von ihm haben möchte, und wenn dieser Mann dann zu mir sagt: "Nein, dafür bist du nicht qualifiziert", und ich darauf antworte: "Du siehst nur einen Teil des Ganzen, hier ist der Rest" – wird man mich als aggressiv bezeichnen, wenn nicht noch schlimmer. Wäre ich wirklich demütig, so würde ich sagen: "Entschuldigen Sie die Belästigung", und ginge bescheiden weg. …
Jesus sagt: "Nein"; die Frau antwortet: "Aber …", und Jesus sagt: "Um dieses Wortes willen, geh" … So war eben das,was die Frau zu Jesus sagte, dasjenige, das ihn zur Sinnesänderung veranlaßte – und nicht warum oder wie sie es sagte. Die Pointe ist, daß die Frau im Recht war. … Und als Ergebnis ihrer Widerrede, und weil sie recht hatte, bekam die Frau, was sie wollte: Ihre Tochter wurde geheilt.
Wenn man die Geschichte so ansieht, können wir daraus zweierlei schlußfolgern: Erstens ist die Frau ein Modell dafür, daß eine Frau durch den aggressiven Einsatz ihres Intellekts das bekommt, was sie will. Es ist das einzige Mal in allen kanonischen Erzählungen über Jesus, wo es jemandem gelingt, Jesus zu einer Sinnesänderung zu veranlassen und ihn von dem abzubringen, was er tun wollte. … Zweitens werden wir gewarnt, uns nicht durch lange Konditionierung blenden zu lassen und die Bibel in einer für Frauen abträglichen Art auszulegen. Einige Stellen der Bibel sind tatsächlich sexistisch, aber diese hier gewiß nicht. …"[ 7 ]
Ein formaler Unterschied fällt sofort auf: Während sich die nichtfeministische Auslegung allein mit der Erklärung des Bibeltextes befasst, setzt sich die feministische Auslegung intensiv und kritisch mit nichtfeministischen Auslegungen auseinander. Obwohl nicht jede feministische Auslegung einer Bibelstelle so ausdrücklich und ausführlich Auslegungskritik betreibt, ist diese kritische Haltung typisch für feministische Exegese. Dieser kritische Blick ist sogar das wesentliche Charakteristikum feministischer Forschung überhaupt: Sowohl der Forschungsgegenstand selbst – in unserem Falle der Bibeltext – als auch die bisherigen Forschungsergebnisse – die wissenschaftlichen Kommentare etwa – stehen im Verdacht, androzentrisch zu sein und patriarchale Strukturen zu stützen. Die meisten der bisherigen wissenschaftlichen Bibelkommentare wurden von Männern verfasst – und oft genug auch für Männer, für Pfarrer und für Professoren. Wie ein Bibeltext oder seine Auslegung auf Frauen wirkt, war ihnen im besten Falle einfach unwichtig. Im Zweifelsfalle benutzen einige Theologen aber auch heute noch ihre Auslegungsgewalt zur Zurückdrängung von Frauen im kirchlichen Raum.
Ein weiterer wichtiger Unterschied ist der der Parteinahme für eine der beiden Hauptfiguren des Textes. Oft wird behauptet, feministische Forschung sei parteiisch, während nichtfeministische Forschung neutral und objektiv sei. Am vorherigen Beispiel ist bereits deutlich geworden, dass diese Behauptung nicht stimmt: Auch nichtfeministische Forschung ergreift Partei. Nur reflektiert sie diese Parteinahme in aller Regel nicht. Während Rudolf Schnackenburg Jesus und sein Handeln ins Zentrum seines Interesses und seiner Sympathie stellt, sind für Joanna Dewey die Syrophönizierin und ihre Argumentation besonders wichtig. Dewey misst andere Auslegungen daran, wie sie die Syrophönizierin darstellen.
Dabei tritt ein weiterer Unterschied zu Tage: Joanna Dewey ordnet der Syrophönizierin ganz andere Adjektive zu als Schnackenburg es getan hat. Sie weist Charakterisierungen wie "demütig und gläubig" entschieden zurück und spricht statt dessen vom "aggressiven Einsatz ihres Intellekts". Sie stellt die Bedeutung dessen heraus, was die Frau sagt. Der Inhalt ihrer Worte, die Schlüssigkeit ihrer Argumentation ist es, die Jesus überzeugt und ihn dazu bewegt, seine Meinung zu ändern.
Es zeigt sich, dass Dewey ein anderes Frauen- und ein anderes Jesusbild hat als Schnackenburg. Sie kann sich vorstellen, dass auch Jesus einmal zu kurz denkt, dass er nicht immer alles schon vorher und besser weiß. Und sie kann sich vorstellen, dass Jesus lernfähig ist, dass er sich nicht zu schade dafür ist, einer Frau Recht zu geben, wenn sie Recht hat, und von ihr zu lernen. Aus eigener Erfahrung weiß Dewey, wie intelligent und schlagfertig Frauen sein können. Und sie weiß, dass dies Frauen häufig abgesprochen wird.
Wie Schnackenburg versteht auch Dewey die Syrophönizierin als Vorbildfigur. Doch sind es ihrer Auffassung zufolge nicht Demut und Vertrauen, was wir Frauen von der Syrophönizierin lernen können, sondern Widerspruchsgeist und der aggressive Einsatz unseres Intellekts. Dewey weiß um die zähmende und lähmende Wirkung, die das Predigen von Demut gerade für Frauen hatte und z.T. bis heute hat. Wenn Frauen weiterhin demütig bleiben und nicht für ihre Interessen kämpfen, wird sich an der herrschenden Ungerechtigkeit nichts ändern. Die Demut der Frauen – oder auch anderer Unterdrückter – stützt die herrschenden ungerechten Strukturen. Unter diesem Blickwinkel gewinnt nicht nur das Wort "Demut" einen negativen Beigeschmack, sondern Dewey geht sogar so weit, eine gewisse Aggressivität positiv zu bewerten. Wohl bemerkt spricht sie vom aggressiven Einsatz des Intellekts, von kämpferischem Widerspruch, der nötig ist, wenn andere nicht weit genug denken. Zu dieser Haltung, die im Gegensatz zu den allzu vertrauten Ohnmachtsgefühlen steht, will Dewey Frauen ermutigen. Sie hat damit beim Auslegen der biblischen Erzählung bereits im Blick, wie bestimmte Auslegungen wirken, was für Gefühle der Ermächtigung oder Ohnmacht sie bei den einzelnen LeserInnen auslösen und wessen politische Position sie stützen oder schwächen.
Wenn ich nun die wichtigsten Ergebnisse meiner vergleichenden Analyse zusammenfassen will, so geht dies nicht ohne einen wichtigen Hinweis: Eines der wesentlichen Anliegen meiner Arbeit, nämlich den Prozess feministischen wie nichtfeministischen exegetischen Forschens und Argumentierens an einer konkreten Textstelle kritisch und vergleichend nachvollziehbar zu machen, lässt sich in einem Schlusswort nicht zusammenfassen. Was sich zusammenfassend umreißen lässt, möchte ich nun schlagwortartig und thesenhaft vortragen:
Feministische Bibelauslegung ist vielfältig und vielgestaltig. Es gibt weder die eine Methode, noch die eine Fragestellung, unter der frau einen Text untersucht, noch kommen feministische Exegetinnen immer alle zu den gleichen Auslegungsergebnissen. Erstaunlicherweise sind die feministischen Auslegungen zur Syrophönizierin sogar weitaus vielfältiger als die – zahlenmäßig doppelt so zahlreichen – nichtfeministischen Auslegungen.
Feministische Bibelauslegung ergreift bewusst Partei für die Frauen und reflektiert diese Parteilichkeit. Nichtfeministische Exegese ist nicht minder parteilich, doch steht hier die wissenschaftliche Reflexion dieser Tatsache noch aus.
Feministische Exegese weiß um die Männerzentriertheit unseres "ganz normalen" Alltagsdenkens. Sie bürstet daher sowohl heutige Auslegungen biblischer Texte als auch diese Texte selbst immer wieder gegen den Strich und prüft, welche Interpretationsalternativen denkbar sind. Nichtfeministische Bibelauslegung tut sich bislang noch schwer mit der kritischen Reflexion ihrer unausgesprochenen Interpretationsvoraussetzungen.
Feministische Bibelauslegung holt Frauen vom Rand des Geschehens ins Zentrum. Sie interessiert sich für biblische Frauen und ihre Geschichte und hält sie für erforschenswert. Und das zu Recht: Immerhin sind die meisten Menschen Frauen. Wenn in der nichtfeministischen Forschung Frauen nur als Randerscheinung oder Sonderthema auftauchen, so zeigt dies die verzerrte unrealistische Perspektive solcher Forschung.
Feministische Exegetinnen wissen aus eigener Erfahrung, wie vielfältig, begabt und facettenreich Frauen sind, denken, handeln und empfinden – und wie wenig sie irgendwelchen Klischees entsprechen. Dementsprechend vielfältig sind auch ihre Frauenbilder. Nichtfeministische Kommentare neigen leider immer noch zum Aufwärmen von Klischees.
Viele Feministische Auslegungen beschreiben Beziehungen zwischen Menschen, aber auch zwischen Gott und den Menschen in nichthierarchischen Bildern. Beziehung und Gegenseitigkeit sind zentrale Kategorien – die Begegnung zwischen Jesus und der Frau ist geprägt von gegenseitigem Geben und Nehmen. Nichtfeministische Auslegungen dagegen sind meist noch von hierarchischen Denkmodellen geprägt (Gott als Hausvater gibt den Kindern Brot; Jesus ist "Herr der Lage").
Feministische Exegetinnen denken nicht mit Scheuklappen. Ihr kritischer Blick auf bisherige Forschung schützt sie davor, Forschungsmeinungen unhinterfragt nachzubeten. Sie denken leichter über die Grenzen von Fächern und Schulen hinweg. Nichtfeministische Exegese ist demgegenüber ungleich schwerfälliger unter der Erblast ihrer langen, altehrwürdigen Traditionen.
Feministische Forschung und Bibelauslegung stellt nicht nur eine notwendige Ergänzung bisheriger Forschung dar. Es wird durch sie nicht nur die zweite Hälfte der Menschheitsgeschichte nachgetragen und der bisherigen Forschung hinzugefügt. Feministische Forschung stellt einen grundlegenden Perspektivenwechsel dar. Wer sie ernsthaft betreibt, muss vieles neu denken lernen.[ 8 ]
Anmerkungen
[ 1 ]
Meyer-Wilmes, Hedwig (1996): Zwischen lila und lavendel. Schritte
feministischer Theologie, Pustet: Regensburg 1996, 45ff.
[ 2 ]
Schnackenburg, Rudolf (1976): Das Evangelium nach Markus,
Patmos: Düsseldorf 21976 (11966), 188.
[ 3 ]
Stock, Klemens (1983): Jesus – die frohe Botschaft:
Meditationen zu Markus, Tyrolia: Innsbruck / Wien 1983, 81f.
[ 4 ]
Dannemann, Irene (1996): Aus dem Rahmen fallen
Frauen im Markusevangelium. Eine feministische Re-Vision
(Alektor-Hochschulschriften), Alektor-Verlag: Berlin 1996.
[ 5 ]
Dewey, Joanna (1979): Frauenbilder, in: Russell,
Letty M. (Hrsg.), Als Mann und Frau ruft er uns. Vom nicht-sexistischen
Gebrauch der Bibel, Pfeiffer: München 1979, 61.
[ 6 ]
Schnackenburg (1976) 185–188.
[ 7 ]
Dewey (1979) 58ff.
[ 8 ]
Wer neugierig geworden ist, kann bald weiterlesen: Strube,
Sonja Angelika (2000): "Wegen dieses Wortes …"
Feministische und nichtfeministische Exegese im Vergleich am Beispiel
der Auslegungen zu Mk 7,24–30 – erscheint voraussichtlich
im Frühjahr 2000 im Lit-Verlag Münster.
Originaladresse:
http://www.bibfor.de/archiv/99-2.strube.htm