Biblisches Forum

Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive • ISSN 1437-9341

Barbara Schmitz, Bamberg

Trickster, Schriftgelehrte oder femme fatale?

Die Juditfigur zwischen biblischer Erzählung und kunstgeschichtlicher Rezeption


pdf  Druckversion (PDF) person  Informationen zur Autorin gohome.png  Ausgabe 2004

Inhalt:


Dies ist die überarbeitete Fassung des Vortrags bei der feierlichen Promotion an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster am 26. Juli 2003.

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Josef Stalin, Herrscher und König über das Reich, in dem die Sonne nie untergeht, hat in einem überwältigenden Feldzug die gerade erst entdeckte Neue Welt erobert und hält nun in seinem Führerhauptquartier in Berlin eine wichtige Beratung mit seinem General Wallenstein ab. Sie beschließen einen erneuten Angriff mit Hilfe des neuen Weltraumprogramms gegen König Ludwig XIV. von Frankreich, genannt den Sonnenkönig.

Diese Sätze strotzen vor Anachronismen. Aber so oder so ähnlich müsste eine Übersetzung des biblischen Buches Judit in die Welt der neuzeitlichen Geschichte lauten. Das Buch Judit, eine Erzählung aus dem zweiten oder ersten Jahrhundert vor Christus, zieht verschiedenste geschichtliche Situationen der Bedrohung des Volkes Israel zu einer fiktiven Collage zusammen: Nebukadnezar, der König von Babylon, wird in der Juditerzählung als König von Assyrien vorgestellt und hat einen persischen General namens Holofernes. Allein diese drei Angaben können historisch nicht harmonisiert werden. Das Buch Judit konzentriert vielmehr in einer einzigen Erzählung verschiedenste Ereignisse der Geschichte Israels, die sich im Laufe von über 400 Jahren ereignet haben.

Der assyrische König Nebukadnezar – so der plot der Erzählung – will alle Völker der Erde erobern. Er möchte nicht nur über die ganze Welt unangefochten herrschen, sondern auch als der einzige und wahre Gott verehrt werden. In einem atemberaubend erfolgreichen Feldzug gelingt ihm und seinem Stellvertreter Holofernes die Eroberung vieler Völker – nur das kleine Volk Israel leistet unerwartet Widerstand. Daher belagert Holofernes Betulia, einen fiktiven Ort in Israel, der auf dem Weg nach Jerusalem situiert wird. Betulia wird belagert und ausgehungert. Als die Bewohnerinnen und Bewohner nach fast vierzig Tagen mit dem Einverständnis der lokalen Führung kapitulieren möchten, tritt Judit, eine schöne und reiche Witwe, auf den Plan. Sie schminkt, salbt und parfümiert sich und zieht sich ihre schönsten und feierlichsten Festtagskleider an. Die wunderschöne Frau gelangt ins Lager der Assyrer und umgarnt den assyrischen General mit ihren Worten und ihrer Schönheit. Holofernes ist überaus begierig, mit Judit zusammenzukommen, so dass ein intimes Fest in seinem Zelt arrangiert wird, um Judit zu verführen. Doch in seiner Vorfreude auf eine Nacht mit der schönen Judit betrinkt sich der General derart, dass er, als er mit Judit alleine im Zelt ist, einfach einschläft. Nun kann Judit ihn mit seinem eigenen Schwert ermorden, indem sie ihm den Kopf abschlägt. Nach Entdeckung von Judits Tat flieht das assyrische Heer kopflos in alle Richtungen. So rettet Judit Israel vor der Katastrophe und bleibt selbst unversehrt.

I. Figuration der Freiheit, mordendes Vamp oder femme fatale?

Die biblische Erzählung schildert einen klassischen Tyrannenmord, der Künstlerinnen und Künstler immer wieder in ihren Bann gezogen hat. Heute ist die Erzählung um die schöne Judit weniger aus der Bibel, sondern vielmehr aus vielfältigen Aktualisierungen in der abendländischen Kunst, Literatur und Musik bekannt: In der mittelalterlichen Tradition fungiert Judit zumeist als Symbol der Tugend und als fromme Frau, doch ändert sich dieses Bild in der Renaissance grundlegend. Im Laufe der Jahrhunderte mutiert die biblische Judit – v. a. in den Augen der männlichen Künstler – von der frommen Frau zum Vamp und zur femme fatale. Dabei wird die Juditerzählung für ganz unterschiedliche Zwecke und Ziele funktionalisiert, von denen im Folgenden – schematisiert und exemplarisch – drei vorgestellt werden sollen.

Erstens dient Judit als Figuration von politischer Freiheit.

Botticelli 1470
Sandro Botticelli um 1470, Rückkehr von Judit nach Bethulien, 31 × 24 cm Uffizien Florenz

In der von Sandro Botticelli 1470 geschaffenen Darstellung symbolisiert Judit die politische Beschützerin von Florenz. Judit und ihre Magd kommen vom assyrischen Lager, das im Hintergrund zu sehen ist, und sind auf dem Rückweg zu ihrer Heimatstadt Betulia. Gelassen und anmutig schreitet die graziös wirkende Judit voran, die in ihrer linken Hand einen Olivenzweig hält. Dieser ist das Zeichen der griechischen Göttin Athena, der Schutzherrin der Städte. Nur der Sarazenensäbel als Waffe deutet auf das Geschehene hin und kennzeichnet Holofernes als bösartigen Heiden und Tyrann – Judit hingegen erscheint in antiker Ikonographie als Athena und Allegorie für Tapferkeit, Stärke und republikanischen Freiheitswillen (vgl. Kehr 1987, 20; Georgen 1984, 121).

Donatello 1455 Donatello, 1459, Judith und Holofernes,
236 cm Höhe, Palazzo Vecchio, Florenz

Ein weiteres Beispiel ist die 1459 von Donatello (1387–1466) im Auftrag von Piero de Medici geschaffene Bronzeplastik. Im Palast der Medici stehend wurde die Darstellung durch die am Sockel der Statue angebrachte Inschrift gedeutet: »Königreiche stürzen durch Unzucht, durch Tugenden steigen diese Städte. Siehe, der Hoffart Haupt fällt vor der Demut Hand«[1]. Symbolisierte Judit zunächst die den Interessen der Stadt dienliche Haltung der Tugend und Demut und sollte mit ihr die Herrschaft der Medici interpretiert werden, diente gerade Donatellos Judit wenige Jahrzehnte später der Deutung der jüngsten politischen Ereignisse – ausgerechnet der Vertreibung der Medici aus Florenz im Jahr 1494. Nun wurde die Bronzeplastik in der Öffentlichkeit an programmatischer Stelle, am Eingang zur Florentiner Signoria, dem heutigen Palazzo Vecchio, aufgestellt, um die politische und bürgerliche Freiheit von Florenz zu symbolisieren. Mit einer neuen Inschrift am Sockel versehen repräsentierte sie nun den republikanischen Freiheitswillen der Stadt: »Exemplum salutis publicae cives posuere 1495« (»Dieses Beispiel der Rettung stellten die Bürger 1495 auf«). Doch schon bald wurde den Stadtvätern von Florenz die Personifizierung der Stadt durch eine Frau wie Judit zu gefährlich – auf Beschluss der Signoria wurde sie 1504 gegen eine andere biblische Figur ausgetauscht: Judit musste dem David Michelangelos weichen.

Michelangelo: David Michelangelo Buonarroti, 1501–1504, David

Auf diese Weise blieb man bei exakt demselben Thema, bei der Ermordung eines starken Giganten und Tyrannen durch einen Schwachen und Wehrlosen und wechselte lediglich das Geschlecht aus. Der Protest richtete sich somit nicht gegen das Dargestellte selbst, sondern gegen das Geschlecht: War die Holofernes tötende Judit zu brisant, war es jedoch offenbar unproblematisch, dass sich eine Stadt wie Florenz mit dem Goliat tötenden David identifizierte. So argumentierte man, dass es sich für die Republik nicht zieme, dass eine Frau einen Mann töte.[2] Hier kündigt sich bereits ein für die Rezeption der Juditerzählung charakteristischer Zug an, der in den folgenden Jahrhunderten immer deutlicher hervortreten und die Aktualisierung Judits in der Kunst immer stärker beherrschen wird: Das Juditthema mutiert zum Geschlechterkampf und wird zugleich auf diesen reduziert.

Neben der Darstellung Judits als politische Allegorie kann eine zweite Funktionalisierung beobachtet werden: Die (männlichen) Künstler lenken den Blick der Betrachtenden immer häufiger Mitleid heischend auf Holofernes und machen ihn mit unterschiedlichen Strategien zum wehrlosen Opfer. Auf diese Weise mutiert der Täter zum (unschuldig leidenden) Opfer. Eine der unglaublichsten Umpolungen der Holofernes-Figur findet sich bei Jacopo Tintoretto (1577/78):

Tintoretto 1578
Jacopo Tintoretto 1577/78, Judit und Holofernes, 188 × 251 cm Prado Madrid

Die ganze Szene findet im Zelt von Holofernes statt, der in gedrehter Körperhaltung auf seinem Bett liegend gerade von Judit mit einem Tuch zugedeckt wird. Sie wendet sich jedoch von Holofernes weg und ihrer jungen, nicht minder attraktiven Magd zu. Diese steckt gerade seinen Kopf in einen Sack. Die zunächst wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehende leere Weinkaraffe und das Glas auf dem Tisch verweisen auf den Alkoholkonsum von Holofernes, während seine Rüstung verstreut umher liegt. Das podestartige Bett wird von blutroten Stoffbahnen umrahmt, die der ganzen Szenerie erotisches Couleur verleihen (vgl. Philpot 1993, 88). Das Spannende an dieser Juditaktualisierung ist die Darstellung von Holofernes: Sein nackter Leichnam trägt ein weißes Lendentuch und erinnert durch die Position, in der er liegt, an den toten Christus, wie er in den Armen seiner Mutter dargestellt wird. Erinnert sei nur an die berühmte Pietà-Darstellung von Michelangelo. So wird nun der Mörder Holofernes mit Christus identifiziert.

In einer dritten Funktionalisierung wird das Judit-Thema zum Geschlechterkampf verändert: Holofernes wird nicht als der brutale Eroberer der biblischen Juditerzählung verstanden, sondern vielmehr als Mann, der stellvertretend für das ganze männliche Geschlecht steht. Ein erstes Beispiel hierfür stammt von Cristofano Allori aus dem Jahre 1613:

Allori 1613
Cristofano Allori 1613, Judit mit dem Haupt des Holofernes, 125 × 100 cm Florenz

Mit leicht gesenkten Lidern blickt die schöne und prächtig bekleidete Judit von oben auf die Betrachtenden herab. In der linken Hand hält sie mitleidlos den abgetrennten Kopf. Neben ihr steht die ihr zugewandte, als ältere Frau dargestellte Magd. In den zwischen 1681 und 1728 erstmals publizierten »Notizie de' professori del disegno« schildert Filippo Baldinucci das Leben Florentiner Künstler nach dem Modell Vasaris und berichtet von der Juditdarstellung Alloris: »Er zeichnete nach dem lebendigen Modell nach ihrem Antlitz das Bildnis der Mazzafirra … und stellte sich selbst in jenem Bild als Holofernes dar; das Gesicht der Alten, das hinter der Gestalt Judits zu sehen und mit dem schönen weissen Tuch geschmückt ist, soll nach der Mutter derselben Mazzafirra nach dem lebenden Modell gemalt sein.« (Baldinucci 1846, Bd. III, 726–727) Die schöne La Mazzafirra war also die Geliebte Alloris, die ihn auf Drängen ihrer Mutter verlassen haben soll (vgl. Anderson 1988, 64–65). Allori hat sich selbst mit dem Mann Holofernes als dem willenlosen Opfer der verführerischen und grausamen Geliebten identifiziert. So wird der Täter und Tyrann Holofernes, losgelöst vom erzählerischen Kontext, zum (sexuellen) Opfer einer Frau. Ihm gilt nun die Sympathie der Betrachtenden. Interessanterweise wurde kein anderes Judit-Gemälde häufiger kopiert als Alloris persönliche Interpretation der Juditerzählung (vgl. Baumgärtel/Neysters 1995, 255–257).

Diese Linie der Juditinterpretation setzt sich fort und ist geradezu tonangebend für die nächsten Jahrhunderte; dies illustrieren zwei Beispiele aus dem 20. Jahrhundert:

Klimt 1901
Gustav Klimt 1901, Judit und Holofernes, 84 × 42 cm Österreichische Galerie in Belvedere Wien

In der Darstellung von Gustav Klimt (1862–1918) aus dem Jahr 1901 wird Judit von Gold und Edelsteinen umfunkelt dargestellt. Unberechenbar und stolz, faszinierend und abweisend zugleich zieht sie den Betrachtenden in Bann. Judits lasziv gesenkter Blick und ihre leicht geöffneten Lippen signalisieren offensichtlich Lust an der Situation. Fast unbemerkt hält sie Holofernes' Kopf in ihrer Hand und krault geradezu zärtlich sein grünlich-verwestes Haupt; Brutalität und Sexualität deuten sich hier gegenseitig. Umgeben von goldschimmernder Umgebung inszeniert das zweidimensionale, flächig gestaltete Bild Judit in orientalisierendem Gewand als mythisch überhöhte Göttin. Die mit neuem Selbstbewusstsein auftretenden Frauen zu Beginn des 20. Jahrhundert spiegeln sich in Klimts Judit als angstvolles Zerrbild.

Stuck 1926
Franz von Stuck 1926, Judit und Holofernes, 157 × 83 cm Staatliches Museum Schwerin

Während meistens Judit nach ihrer Tat dargestellt wird, steht in der 1926 von Franz von Stuck geschaffenen Darstellung der Mord unmittelbar bevor. Eine vollkommen entkleidete Judit steht in triumphierend-erotischer Pose neben dem schlafenden Holofernes. Eiskalt und brutal fixiert sie den hilflos Schlafenden. Judit besitzt markante Gesichtszüge und »verkörpert mit ihrer knabenhaften, schmalen Figur und dem kurzen Haar den Frauentypus der 20iger Jahre, der ›garçonne‹« (Eschenburg 1995, 158). Voller Hochmut und Verachtung genießt sie ihre uneingeschränkte Macht über Leben und Tod. Das extrem große, überlange Schwert evoziert an Sigmund Freud inspirierte Interpretationen.

Die biblische Judit ist zum mordenden Vamp in der Phantasie der männlichen Maler mutiert – die fromme Frau ist nun endgültig der femme fatale gewichen.

Nach diesem kurzen Durchgang durch einige Etappen der Rezeption des Juditmotivs in der europäischen Kunst ergibt sich ein höchst spannender, aber seltsam diverser Befund: Die Erzählung über eine Frau, die einen Mann ermordet, hat von ihrer narrativen Disposition eine zutiefst anstößige Brisanz und reizt geradezu zu ambivalenten Aktualisierungen, so dass sie als Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Ideen, Zwecke und Ziele fungierte und daher als eine »Ideo-story« (Mieke Bal) bezeichnet werden kann:[3] Dies sind Erzählungen, die in sich eine abgeschlossene, kohärente und oft auch spannende Geschichte erzählen, aber zugleich Unmittelbarkeit und Vorstellungsvermögen so fördern, dass sie für unterschiedlichste Aktualisierungen empfänglich sind. Auf diese Weise können ganz unterschiedliche Ideologien in sie hineinprojiziert werden. Versteht man die Juditerzählung als eine Ideo-story, dann ist die ambivalente Rezeptionsgeschichte nicht nur deshalb spannend, weil sie als ein Zeugnis der Projektion von zeitgenössischen Ideen, politischen Ambitionen und persönlicher Lebenserfahrungen gelesen und dekonstruiert werden kann, sondern es ist zugleich zu fragen, welche Strukturen und Elemente in der Erzählung selbst diese ambivalente Rezeptionsgeschichte begünstigen und welche Elemente Widerstand und Widerspruch ihr gegenüber anmelden.

Dem soll im Folgenden exemplarisch nachgegangen werden. In einem ersten Teil geht es daher um eine differenzierte Bewertung des Motivs der Schönheit und der Verführung in der Juditerzählung und in einem zweiten Teil um die bislang wenig beachtete Charakterisierung Judits als schriftgelehrte Theologin; für diese Porträtierung spielen die Reden und Gebete eine zentrale Funktion.

II. Schönheit und Verführung oder Gelehrsamkeit und Weisheit?[4]

1. Judit als Trickster

Die Juditfigur wird als attraktive Frau beschrieben (Jdt 8,7–8), die sich schön macht, um die Blicke der Männer auf sich zu ziehen (Jdt 10,2–4). Ihre natürliche Schönheit wird durch ein mit kosmetischen und modischen Mitteln inszeniertes Auftreten ergänzt. Dies liefert sicherlich einen der zentralen Anknüpfungspunkte für die Art und Weise, wie die Juditfigur in Kunst, Musik und Literatur rezipiert wird. Die Beschreibung ihrer Schönheit (vgl. hierzu auch Rakel 1998) hat in der biblischen Erzählung eine Offenheit, die Projektionen aller Art begünstigt und provoziert. Zugleich ist mit dieser häufig eine moralische Abwertung verbunden, indem in den Darstellungen Judits Schönheit mit List, Tücke, Verschlagenheit, Falschheit, Brutalität und Gewalttätigkeit kombiniert wird – eine schöne Frau gilt zugleich immer auch als gefährliche Frau. Gründe für diese moralische Abqualifizierung werden – neben der Ermordung von Holofernes in Jdt 13 – v. a. in ihrer Rede in Jdt 11 gefunden: Als Judit ins Lager der Assyrer gelangt, wird sie zu Holofernes gebracht. Vor ihm hält sie ihre entscheidende Rede, in der es ihr gelingt, den assyrischen General zu überzeugen. Sie verspricht Holofernes, ihm zum Sieg zu verhelfen, ohne dass er auch nur einen einzigen Soldaten verlieren werde: Sie werde Holofernes signalisieren, wann das Volk Israel sich gegen Gott versündigt habe, denn dann werde Gott sich von seinem Volk abwenden und Holofernes könne Israel ganz leicht erobern. Holofernes, verführt durch ihre kluge Rede und ihre Schönheit, geht auf ihren verheißungsvollen Plan ein. Er lobt ihre Worte, besonders aber ihre Schönheit – und hier merken die Lesenden schon, dass er mehr im Sinn hat, als nur den Sieg gegen Israel. Bereits hier hat Holofernes seinen Kopf verloren … noch lange bevor er ihn physisch verlieren wird. Liest man die Rede im 11. Kapitel jedoch genau, merkt man, dass Judit mit keinem Wort lügt, sondern ihre Anliegen so formuliert, dass sie intendiert doppeldeutig sind. Judit maskiert die Wahrheit ihrer Worte in bewusst inszenierter Doppelsinnigkeit. Ihre Rede zeichnet sich eben nicht durch bewusste Lügen aus, sondern vielmehr durch feinsinnige Ironie: So verspricht sie Holofernes beispielsweise, ihn, ohne dass ein Hund gegen ihn knurren werde, nach Jerusalem zu führen, um ihm dort einen Thron zu errichten (Jdt 11,18–19). Dies geschieht auch – allerdings nicht in der Weise, wie es Holofernes glauben sollte. Vielmehr werden die Gegenstände, die von Holofernes zu Judits Verführung dienen sollten (das Bett, die silbernen Kerzenleuchter, das Mückennetz etc.), als seine Symbole und Insignien (vgl. hierzu Schmitz 2003) nach Jerusalem gebracht und dort dem Tempel von Jerusalem gestiftet (Jdt 15,11; 16,19). Judit hat Recht behalten – kein Hund hat gegen ihn geknurrt und ihm ist im Tempel von Jerusalem ein Thron errichtet worden. Es geht hier also nicht um Lüge als Simulation von Aufrichtigkeit, sondern um Ironie als Simulation von Unaufrichtigkeit, deren Ziel es ist, durchschaut zu werden. Judits Ironie besticht insofern durch besondere Aufrichtigkeit. Ihre Aussagen aus Jdt 11 bewahrheiten sich in den folgenden Kapiteln der Erzählung und unterscheiden sich darin von der Lüge, deren Merkmal es ist, gar nicht erst die Absicht zu haben, die Wahrheit zu sagen.[5] Für Jdt 11 ist somit sowohl der Unterschied zwischen Ironie und Lüge, als auch die Differenz zwischen den in der Szene anwesenden Figuren und den Lesenden konstitutiv: Holofernes durchschaut die Ironie von Judits Worten nicht, die Lesenden aber können ihre Aussagen als Ironie decodieren. Die Rede ist somit ein Glanzstück an semantisch oszillierenden Motiven und Aussagen, aus denen Holofernes das heraushört, was er hören möchte, ohne zu durchschauen, dass genau diese Strategie zu seinem Untergang führen wird. Daher sind Judits Auftreten und ihre Worte als ein literarischer Kunstgriff von Unterlegenen zu verstehen. Judit ist in der biblischen Erzählung nicht die brutale, sexuell gierige femme fatale, sondern eine Frau, die sich zur Rettung ihres Volkes, das vor Hunger und Durst umkommt (Jdt 7,19–22), ins Lager der Assyrer begibt und sich bewusst ist, dass sie sich damit der Gefahr von sexueller Belästigung und Vergewaltigung aussetzt (vgl. Jdt 9,2–4). Sie ist keineswegs die Überlegene, sondern die Unterlegene und potentielles Opfer. Aus dieser Position wird Judits Verhalten als eine Strategie, eine Strategie von Opfern, dargestellt: Judit wird als Trickster-Figur charakterisiert.[6]

In Trickster-Erzählungen setzen sich sozial und politisch Benachteiligte durch geschickte und betrügerische Strategien gegen Mächtige durch und überschreiten auf diese Weise soziale und gesellschaftliche Grenzen sowie stereotype Genderkonstruktionen. In Situationen persönlicher, politischer, ökonomischer oder religiöser Unterdrückung versuchen Trickster-Figuren ihre underdog-Situation durch alternative Handlungsstrategien zu verbessern.[7] Von den Lesenden erhalten sie dabei auch für die mitunter an der Grenze zum Betrug oder zur Lüge stehenden Aktionen augenzwinkerndes Einverständnis. Die biblische Überlieferung, die immer wieder aus der Perspektive »von unten« erzählt, ist voll von diesen Trickster-Figuren. So sei an Jakob, den notorischen Betrüger, erinnert, der schon bei der Geburt seinen Bruder austrickst, sich den Segen seines Vaters erschleicht, sich bei seinem Schwiegervater bereichert, und der trotz allem den Namen Israel erhalten hat und zum Stammvater des Volkes geworden ist.

Judits Verhalten ist also nicht durch moralische Ambivalenz zu charakterisieren, sondern durch reflektierten Umgang einer Machtlosen gegenüber Mächtigen. Judit wird – und zwar ausschließlich in den Kapiteln 10–13 – als Trickster inszeniert. Vorbild für ihr Verhalten sind nun nicht trickreich agierende biblische Frauenfiguren, sondern ausgerechnet männliche Trickster-Gestalten: In ihrem großen Gebet in Jdt 9 bittet Judit Gott um die Kraft des Tricksters Simeon sowie um die Verschlagenheit Jakobs, um sich dann vor Holofernes in Jdt 11–12 als von Gott geleitete, schöne Prophetin zu präsentieren. Damit maskiert sie sich als Verführerin in dem sicheren Wissen, dass diese Strategie vor dem Mann Holofernes aufgeht. Beide Figuren, Judit und Holofernes, versuchen einander durch List zu verführen und für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. In der Erzählung wird dies am Motiv der απατη entfaltet (in Bezug auf Judit vgl. Jdt 9,10.13; 10,4; 13,16; 16,8 und in Bezug auf Holofernes vgl. Jdt 12,16). Das Leitwort απατη eröffnet somit eine zentrale Sinnlinie, mit der klassische Geschlechterstereotype perpetuiert werden, um sie durch Judits Tat zu durchbrechen. Judit untergräbt als Trickster die androzentrische Machtstruktur, die in der Erzählung geschildert wird, durch ihr mimetisches Spiel mit ihrer Schönheit und ihrer Verführung. Vorbild für Judits Verhalten sind nun gerade nicht Frauengestalten der Bibel, denen gerne aus androzentrischer Perspektive Lüge und gefährliche Verführung als Generalvorwurf vorgehalten wird, sondern gerade biblische Männergestalten: Simeon und Jakob sind nicht beliebige Beispiele aus der biblischen Tradition, sondern sind die Stammväter von Judits Sippe (vgl. Jdt 8,1). Judits Trickery rekurriert damit gerade auf den Beginn ihrer eigenen Familiengeschichte, deren Anfänge zur Handlungsstrukturierung aktualisiert werden. Auf diese Weise wird in der Juditerzählung durch das Spiel mit dem Klischee von der schönen und gefährlichen Verführerin und fremden Frau das Gender-Muster durchbrochen. Judits Verhalten wird daher als eine Strategie präsentiert, die der Rettung Israels dient. Zudem ist ihr Verhalten an dem Vorbild der mit Täuschung operierenden Männer inspiriert. Auf diese Weise dient das Trickery-Paradigma nicht zur Charakterisierung der Juditfigur, sondern ist inszenierte Strategie, die ausschließlich in den Kapiteln 10–13 zur Rettung Israels funktionalisiert wird.

2. Judit als schriftgelehrte Theologin

Neben dieser differenzierten Betrachtung des Verführungsmotivs stellt sich die Frage nach der eigentlichen Charakterisierung Judits. Judit wird gerade in den Reden und Gebeten als Theologin charakterisiert, die in überlegter Situationsanalyse als Einzige in der Lage ist, die Zeichen der Zeit richtig zu erkennen und entsprechend zu handeln. Daher kann sie ihren Plan erfolgreich umsetzen, ohne selbst Opfer sexueller Gewalt zu werden, die Holofernes planvoll organisieren lässt (Jdt 13,2.16.20).

Die Juditfigur darf aus mehreren Gründen als schriftgelehrte Theologin bezeichnet werden. Zum einen erschließt sich diese Charakterisierung aus einer intertextuellen Referenz: Judit ist nach dem Ideal des Schriftgelehrten in Sir 38,24–39,11 porträtiert. So kann sie, deren συνεσις und σοφια (Jdt 8,29) dezidiert betont wird, als narrative Umsetzung des im Sirachbuch männlich gedachten γραμματευς gelten. Zum anderen wird die Juditfigur innerhalb der Erzählung selbst und besonders in ihren Reden und Gebeten als schriftgelehrte Theologin charakterisiert. In vielfältiger Weise wird in diesen Sprechhandlungen aus anderen biblischen Büchern zitiert oder biblische Geschichten werden evoziert. Zugleich wird als zentrales Argument immer wieder auf die Geschichte Israels rekurriert, um die theologischen Positionen Judits in der Geschichte und Tradition Israels zu verankern. So erinnert Judit z. B. vor den drei Ältesten der Stadt Betulia, die eine falsche Entscheidung getroffen haben (Jdt 8), an das leuchtende Beispiel der drei Erzväter, Abraham, Isaak und Jakob – bewusst aktualisiert sie vor den drei Männern die Geschichte Israels als Männergeschichte. Alleingelassen, im Gebet vor Gott (Jdt 9) rekurriert sie dann auf Frauengeschichte, nämlich auf die Erzählung von der Vergewaltigung Dinas, der Tochter Jakobs, in Gen 34. Die aus der biblischen Tradition und Geschichte gewonnen Einsichten werden aber nicht als unhinterfragbare Autoritätsargumente eingesetzt, sondern das biblische Material wird vielmehr zur Erfahrungsstrukturierung und Handlungsorientierung neu und kreativ aktualisiert. Als Schriftgelehrte betreibt sie Theologie, indem sie die gegebene Situation kritisch beurteilt, die aktuellen Fragestellungen und Problemen an die Tradition rückbindet, um zu einer Entscheidung zu gelangen und diese aktiv handelnd umzusetzen. Dieses methodisch-hermeneutische Vorgehen würde man heute als den Dreischritt »Sehen – Urteilen – Handeln« bezeichnen. So erweist sich das Juditbuch sowohl in Bezug auf die methodisch-hermeneutische Vorgehensweise, als auch in Bezug auf Inhalte und theologische Positionen als höchst modern und anschlussfähig. Ein Beispiel: Das Motiv der Hand ist ein Leitmotiv der Juditerzählung, das 19 Mal vorkommt und meistens der Judit-Figur in den Mund gelegt wird.[8] Dabei wird eine feine Differenzierung vorgenommen: Es wird zum einen betont, dass Judit Holofernes durch ihre Hand ermordet. Zum anderen wird aber noch viel häufiger herausgestellt, dass Gott durch die Hand Judits gehandelt hat. Dies bewirkt eine ineinander verwobene Interpretation von Gottes Handeln und Menschen-Handeln. Diese Interpretation geschieht nicht in Form einer Feststellung des Erzählers, sondern als Judits Bitte an Gott vor ihrer Tat bzw. als Interpretation des Geschehens nach ihrer Tat – und zwar immer in den Reden und Gebeten. Gott selbst greift an keiner Stelle handelnd in die Erzählung ein – anders als man es aus viel älteren biblischen Erzählungen kennt, in denen ganz unproblematisch und unbefangen von Eingreifen Gottes in die Geschicke dieser Welt erzählt wird. Am Motiv der Hand erfolgt also eine neue Verhältnisbestimmung von göttlichem und menschlichem Handeln, die zur Zeit der Abfassung des Juditbuches als theologisches Problem diskutiert wurde: Wie kann man sich vorstellen, dass Gott, der absolut jenseitig gedacht wird, in das diesseitige Geschehen eingreifen und die Geschichte verändern kann? Die klassische Geschichte, die Gottes Rettungshandeln in auswegloser Situation erzählt und in der er – wie in keiner anderen – aktiv handelnd in das Geschehen eingreift, ist die Erzählung vom Exodus des Volk Israel aus Ägypten. In hellenistischer Zeit problematisierten die Aktualisierungen der Exoduserzählungen dieses Eingreifen Gottes in die Welt. Ein Ergebnis dieses Reflexionsprozesses ist z. B. die Neuinterpretation des Exodus im Buch der Weisheit (Weish 10–11) – oder auch im Juditbuch: Judit wird als neuer Mose charakterisiert und stellt zugleich ein exemplarisches Handlungsmodell dar. Sie sieht die Not des Volkes und erkennt die theologischen Implikationen und Konsequenzen einer Kapitulation der Stadt. Dies motiviert sie zum Handeln; vorher aber argumentiert sie mit den Verantwortlichen der Stadt in Jdt 8 und trägt in Jdt 9 ihren Plan, den sie in Erinnerung an die Exoduserzählung entwickelt hat, im Gebet vor Gott. Erst anschließend kann sie Holofernes gegenübertreten, um ihn erst mental und dann physisch kopflos zu machen. Judit interpretiert ihre Tat als Gottes-Handeln, das sich in ihrer Ausführung realisiert hat. Das Geschehen als Gottes-Handeln zu verstehen, ist somit die Interpretation in der Erzählung. Mit dieser Zuordnung von göttlichem und menschlichem Handeln ist ein Handlungsmodell geschaffen, mit dem in intellektuell verantwortlicher und theologisch redlicher Weise im Zeitalter des Hellenismus von Gott als dem Gott der Geschichte, der Rettung und der Zuwendung gesprochen werden kann.

Diese theologischen Reflexionsprozesse, die am Beispiel des Motivs der Hand exemplarisch aufgezeigt werden können, erfolgen v. a. in den Reden und Gebeten – und in der Tat nehmen diese Sprechhandlungen eine zentrale Funktion ein: Daher soll nun die Bedeutung der Reden und Gebete beleuchtet werden, weil diese einen neuen Blick auf den Aufbau und die Aussage der Juditerzählung ermöglichen.

Das Juditbuch ist von sechs großen Reden und Gebeten durchzogen. Diese sind erstens die programmatische Rede des assyrischen Königs Nabuchodonosor (Jdt 2,5–13), zweitens die dialogische Auseinandersetzung zwischen Holofernes und Achior (Jdt 5,3–6,9), drittens die Auseinandersetzung zwischen Judit und den Ältesten von Betulia (Jdt 8,9–36), viertens Judits Gebet (Jdt 9,2–14), fünftens die dialogische Auseinandersetzung zwischen Holofernes und Judit (Jdt 11,1–23) und sechstens das abschließende Gebet Judits (Jdt 16,1–17).

Bislang orientieren sich die Strukturanalysen der Juditerzählung immer am narrativen Aufbau der Handlung und sehen trotz aller Unterschiede im Detail den entscheidenden Einschnitt der Erzählung in Jdt 8. Für eine narrative Analyse ist dieser zentral, wird doch in Jdt 8,1–9 ein neuer Ort und Judit als neue Figur eingeführt. Zudem wiederholt Jdt 8,1–9 vom Aufbau und von der Syntax den Beginn der Erzählung in Jdt 1,1–5. Daher besteht breiter Konsens in der Forschung, die Juditerzählung in die großen Erzählabschnitte Kapitel 1–7 und Kapitel 8–16 zu gliedern.[9] Bei dieser Gliederung werden aber die Sprechhandlungen übergangen, obwohl diese für die Juditerzählung zentrale Bedeutung haben. Fokussiert man den Blick auf die sechs großen Reden und Gebete, ergeben sie einen eigenen Spannungsbogen innerhalb der Erzählung. Wie durch motivliche, lexematische und thematische Bezüge der einzelnen Sprechhandlungen zueinander gezeigt werden kann, entsprechen sich Jdt 2 und 16, Jdt 5 und 11 sowie Jdt 8 und 9.

Jdt 2,5–13: Rede Nabuchodonosors

Jdt 5,3–6,9: Dialog zwischen Holofernes und Achior

Jdt 8,9–36: Judits Auseinandersetzung mit den Ältesten

Jdt 9,1–14: Judits Gebet

Jdt 11,1–23: Dialog zwischen Holofernes und Judit

Jdt 16,1–17: Judits Lied

Auf diese Weise konstituieren sie einen eigenen Spannungsbogen, dessen Höhepunkt in der Rede Judits in Jdt 8 und ihrem Gebet in Jdt 9 erreicht wird. Hier werden die entscheidenden theologischen Reflexionen geleistet, aus denen sich das spätere Handeln Judits konsequent ergibt. Der Spannungsbogen der Reden und Gebete betont so die Bedeutung der theologischen Reflexion und setzt in der vermeintlichen sex-and-crime-story einen eigenen Akzent. Jdt 8 und 9 bilden somit eine Szene und eine Reflexionseinheit und fungieren als theologische Spitzentexte der Erzählung, die den Höhepunkt des durch die Reden und Gebete erzeugten Spannungsbogens markieren. Jdt 5 und 11 sind Reden vor Holofernes und stehen in Mittelposition zueinander. Jdt 16 interpretiert das Geschehen retrospektiv und Jdt 2 prospektiv.

Spannungsbögen

Dieser Spannungsbogen der Reden und Gebete unterscheidet sich grundlegend vom narrativen Spannungsbogen, dessen tiefer Einschnitt zwischen Jdt 7, der Schilderung der größten Not in Israel, und Jdt 8, der Einführung der neuen Figur Judit, liegt. Während die Kapitulation unmittelbar bevorsteht und der Handlungsbogen am absoluten Tiefpunkt ist, ist der Spannungsbogen der Reden und Gebete an seinem Höhepunkt angelangt: Jdt 8 und 9 sind als theologische Spitzentexte der Erzählung im Moment der größten Not situiert. Dies relativiert den Höhepunkt der Handlung, der in der Ermordungsszene in Jdt 13 anzusiedeln ist: Bei der ersten Lektüre der Erzählung sind die Leserinnen und Leser gefesselt durch die spannend erzählte Handlung und die offene Frage nach dem Ausweg aus der Not. Dieser Spannungsbogen ist am Mord Judits orientiert, auf den das Buch Judit besonders durch die Rezeptionsgeschichte reduziert wurde. Wiederholte Lektüre der Erzählung stellt dann aber die Frage nach der theologischen Dimension der Erzählung. Bei dieser sind die Lesenden zentral auf die Sprechhandlungen der Erzählung angewiesen: In ihnen wird das Geschehen theologisch reflektiert und fundiert. So erweisen sich Sprechhandlungen als Reflexionseinheiten und als Orte des theologischen Diskurses, die die Erzählung insgesamt zu einer theologisch reflektierten Erzählung machen. Durch die Differenz der beiden Spannungsbögen werden daher unterschiedliche Profile der Erzählung hervorgehoben: Während der Spannungsbogen der Handlung an der Rettung des Volkes Israel und dem Mord an Holofernes durch Judit orientiert ist, entfaltet und reflektiert der Spannungsbogen der Reden und Gebete das theologische Profil der Erzählung. Dazu zählt, dass alle Handlungen der narrativen Ebene zuerst in den Sprechhandlungen reflektiert werden, bevor sie in die Tat umgesetzt werden. Gerade die oft als Skandal verstandene Tat Judits wird schrittweise in den Reden und Gebeten legitimiert: Das Unverständnis der Ältesten für die Argumente Judits schafft erst die Voraussetzungen, die Judit dazu nötigen, selbst handelnd aktiv zu werden. Doch bevor sie in ihr Haus zurückkehrt und sich vorbereitet (Jdt 10ff.), betet sie und bittet Gott um Beistand bei ihrer geplanten, aber den Lesenden noch unbekannten Tat (Jdt 9). Auf diese Weise wird die Spannung nicht nur erhalten, sondern vermehrt, und zugleich wird der Mord durch die erfolgte Reflexion in den Reden und Gebeten nicht als spontan und unbedacht, sondern als reflektiert dargestellt. Judit ist eine schriftgelehrte Theologin, die nach langer Vorbereitung und Vergewisserung in der Geschichte und Tradition Israels handelnd aktiv wird.

Schönheit und Verführung auf der einen und Gelehrsamkeit und Weisheit auf der anderen Seite sind in der Juditerzählung keine sich ausschließenden Alternativen, sondern sind vielmehr aufeinander bezogen und ineinander verwoben: Judits Schönheit ist Ausdruck ihrer Gottesfurcht und Weisheit. Die Juditfigur ist weder männermordendes Vamp noch femme fatale, sondern wird vielmehr als eine Schriftgelehrte porträtiert, die mit συνεσις und σοφια agiert – gerade dann, wenn sie in der Position als Unterlegene und vom Tod Bedrohte als Trickster-Figur gezeichnet wird und Verführung und List gezielt als Strategie einsetzt, um Israel zu retten. Die unterhaltsame Juditerzählung transportiert in ihrer Vielschichtigkeit hoch reflektierte Theologie. Diese verdichtet sich in den Reden und Gebeten als Orte der theologischen Reflexionen. Und gerade von diesen meldet sich Widerstand gegen die immer offensichtlicher werdende misogyne Rezeption der Juditfigur in der abendländischen Kunst an.


Literatur


Anmerkungen

[ 1 ]
»Regna cadunt luxu surgent virtutibus urbes caesa vides humuli colla superba manu«, vgl. zu der zweiten, etwas später von Piero de Medici angebrachten Inschrift, Friedman 1987, 236.

[ 2 ]
Vgl. Hammer-Tugendhat (1997) 360; italienischer Originaltext dieser Auseinandersetzung in Seymour 1967, 142–144.

[ 3 ]
Bal 1988a, 11: “By the term, I mean a specific but as yet unrecognized literary genre. An ideo-story is a narrative whose structure lends itself to be a receptacle of different ideologies. Its representational makeup promotes concreteness and visualization. Its characters are strongly opposed so that dichotomies can be established. And its fabula is open enough to allow for any ideological position to be projected onto it. Ideo-stories, then, are bot closed but extremely open; however, they seem to be closed, and this appearance of closure encourages the illusion of stability of meaning.”

[ 4 ]
Ausführlich finden sich die folgenden Überlegungen in Schmitz 2004, 418–480.

[ 5 ]
Vgl. zu den Begriffsdefinitionen Lapp 1992, 140–152.

[ 6 ]
Weil die deutschen Übersetzungen »Schwindler«, »Schelm«, »Narr«, »Betrüger«, nur unzureichend sind, soll der englische Begriff Trickster weiterverwendet werden.

[ 7 ]
Zu Trickster-Erzählungen vgl. Niditch 1987; Steinberg 1988; Ashley 1988; Bal 1988b; Camp 1988; Engar 1990; Jackson 2002.

[ 8 ]
Vgl. Jdt 2,12; 6,10; 7,25; 8,33; 9,2.9.10; 10,15; 11,13.22; 12,4; 13,4.14.15; 14,6; 15,10.12; 16,2.5.

[ 9 ]
Beispielhaft seien Zenger 1981, Craven 1983, Zenger 1996 und Engel 1992 genannt.


Originaladresse:
>http://www.bibfor.de/archiv/04.schmitz.htm


pdf  Druckversion (PDF) person  Informationen zur Autorin gohome.png  Ausgabe 2004

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